Pierre LeTrognon

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Kapitel 1

Ein Mann stirbt

Jojo sass im Wald und sah in die Abendsonne, die über der Stadt in der Ebene unten stand. Oben in den Bäumen musste eine Tannenmeise singen. Ganz deutlich hörte er ihr schnelles und leises Zwitschern. Didu-didu-didu tönte es in seinen Ohren. Er schaute nicht nach ihr. Er würde sie doch nicht finden. Lieber sog er ganz langsam, ganz tief, den Duft der Kiefern ein und liess sich die Unterarme von den letzten Strahlen der Sonne wärmen. Da riss ihn eine ungewohnte Bewegung aus seinem wohligen Frieden. Irgendjemand kam durch das Ödland den Berghang herauf. Das passierte eigentlich nie. Niemand kam hierher ausser ihm. Doch dieser Mann ging schnellen Schrittes den Berg herauf. Er beschleunigte seine Schritte sogar, je näher er kam. Wieder und wieder drehte er den Kopf zur Stadt, also ob jemand hinter ihm her wäre. Aber da war niemand. Der Mann war ganz allein. Und doch ging er, als ob er verfolgt würde. Es war schon kein Gehen mehr. Er lief, er rannte, und dabei schaute er sich immer wieder um. Seine Bewegungen wurden hektisch und abgehackt. Er lief direkt auf Jojo zu. Natürlich konnte er ihn unmöglich sehen im Schatten der Bäume. Jojo beobachtete ihn gespannt. Er hörte bereits den pfeifenden Atem des Mannes, sein Keuchen. Der Unbekannte taumelte, es musste ihm schwindlig sein. Endlich hatte er den Waldrand erreicht. Er lief noch einige Schritte durch den Wald und brach schliesslich zusammen. Seine Beine und Arme zuckten in Krämpfen. Sein Atem ging röchelnd. Jojo lief herbei. Er kniete bei dem Mann nieder und beugte sich über ihn. Die Augen des Mannes weiteten sich. Er starrte ihn an.

«Sie kommen», röchelte er fast unhörbar, «sie sind schon da, ganz nah, ich kann ihnen nicht entkommen. Sie haben mich erwischt.» Ein Flehen trat in seine brechende Stimme. «Sie dürfen es nicht bekommen, nie. Es darf nicht in ihre Hände fallen. Nimm du es Junge, verstecke es, bewahre es. Sie dürfen es nicht bekommen. Es ist zu kostbar.» Seine Finger krampften sich um etwas in seiner Hand. Er bäumte sich auf in einer letzten Konvulsion. Dann regte er sich nicht mehr. Es war nur noch das Weisse der Augen zu sehen.
Jojo sass starr vor Schreck. Was sollte er tun? Er versuchte den Puls des Gefallenen zu spüren. Nichts. Er lauschte auf Atem. Nichts. Er schaute, ob sich die Brust des am Boden Liegenden irgendwie regte. Nichts. Sollte er Hilfe holen? Das war schwierig. Durch das Ödland an den Rand der Stadt waren es fünfzehn Minuten. Und wie sollte er erklären, dass er im Wald gewesen war? Man ging nicht in den Wald. Nicht dass es verboten war. Es war nicht verboten. Aber es war tabu. Der ganze Wald war tabu. Man sagte besser nicht, dass man im Wald gewesen war. Dem Mann konnte er nicht mehr helfen. Aber vielleicht konnte er ihm seinen letzten Wunsch erfüllen. Er schaute auf den Körper hinab. Dessen Hände hatten sich entspannt. Das Ding war auf den Waldboden gefallen. Jojo hob es auf. Das Ding war ein Buch. Jojo hatte schon Bücher gesehen. Im Museum. Da gab es Bücher als Hologramme aus alten Zeiten. Früher hatte es Bücher gegeben. Früher, als die Menschheit noch nicht so weit entwickelt gewesen war. Aber er hatte noch nie eines in den Händen gehalten. Vorsichtig hob er das Buch auf. Es fühlte sich gut an. Es hatte einen festen Einband, und mit seinen Fingerspitzen konnte er eine leichte Struktur spüren. Später würde er es genauer anschauen. Jetzt musste er es zuerst in Sicherheit bringen. Er hatte ein Versteck tiefer im Wald. Da hatte er noch andere Sachen. Er hatte alles in seiner Kiste im hohlen Baum versteckt. Er stand auf und machte sich auf, tiefer in den Wald hinein.
Als er wieder an den Waldrand zurückkam, war der Mann verschwunden. Er konnte die Stelle noch sehen, wo er den Boden aufgewühlt hatte in seinen Krämpfen. Aber der Mann war verschwunden. Erstaunt blickte Jojo umher. Wo war er hin? Wie war das möglich? Dann sah er ihn. Dort ging der Mann durch das Ödland auf die Stadt zu. Er ging langsam, völlig entspannt. Er schlenderte geradezu. Und er schaute nicht zurück.
Jojo blickte ihm nach. Der Mann war schon ziemlich weit entfernt. Nun ging er normal. Nun hatte er den gleichen Gang wie so viele in der Stadt. Er ging langsam, ganz gelöst, und doch waren die Bewegungen nicht völlig fliessend. So gingen viele Menschen, entspannt mit fast fliessenden Bewegungen. Sie gingen zielgerichtet und doch wie absichtslos. Arme und Beine waren in ihren Bewegungen ideal koordiniert. Niemand liess die Arme beim Gehen einfach hängen wie Jojo, wenn er allein im Wald war. Alle bewegten die Arme gegensinnig zu den Beinen. Das war optimal für die Gesundheit. Arme und Beine bewegten sich in perfekter Harmonie. Ihre Bewegungen liessen sich durch eine ideale Sinuskurve beschreiben. Jojo schaute dem Mann nach, bis er die Stadtmauer erreicht hatte. Dort verschwand er. Ganz offensichtlich gab es doch mindestens eine Tür in der Stadtmauer.
Jojo fröstelte es trotz der Wärme im Wald. Er war nicht normal. Deswegen sass er jetzt auch allein im Wald. Er war krank, und er genoss es, im Wald zu sein. Erst um Mitternacht musste er wieder in der Stadt sein. Bis dahin würde er hier sitzen bleiben. Er würde einfach am Waldrand sitzen, den Vogelstimmen lauschen und zuhören, wie es mit zunehmender Dunkelheit weniger werden würden, und das Trippeln und Trappeln der kleinen Tiere zunahm, das Rauschen der Eulenflügel und ab und zu ein Knacken von Zweigen vom nächtlichen Leben im Wald künden würden. Er kannte den Wald noch nicht lange. Vor zwei Jahren war er das erste Mal hier gewesen. Damals hatte er noch bei Einbruch der Dunkelheit zuhause sein müssen. Aber seit zwei Wochen durfte er nun bis Mitternacht draussen bleiben. Vor zwei Wochen war er nämlich siebzehn geworden. Das war keine Erfindung seiner Eltern. Diese Regel galt für alle in der Stadt. Wer siebzehn oder älter war, musste erst um Mitternacht wieder zuhause sein. Das galt für alle – auch für die Neunzigjährigen.

Kapitel 2

Die Gemeinschaft in der jeder allein ist

Jojo kam mit verschlafenen Augen in die Küche. «Guten Morgen Mama», sagte er. Seine Mutter sass am Küchentisch. Sie sah ziemlich genervt aus. Aber sie sprach mit ruhiger Stimme wie immer:

«Guten Morgen Jojo. Gut, dass ich dich endlich sehe. Ich wollte schon gestern Abend mit dir sprechen, aber du bist ja so spät nach Hause gekommen. Ich habe dich nicht gesehen, bis ich zu Bett gegangen bin. Allerdings habe ich wieder einmal dein schmutziges Geschirr gesehen. Ich habe es schliesslich abgespült. In der letzten Woche hast du dein Geschirr dreimal nach dem Essen auf die Spüle gestellt, und es stand dort jeweils bis zum Morgen. Dann habe ich es abgespült. Ich bin sehr traurig und frustriert, dass ich auch heute wieder einmal dein schmutziges Geschirr vorfinden musste. Ich möchte, wenn ich in das Haus komme, eine Ordnung vorfinden, die mir ein Entspannen möglich macht. Sage mir bitte, ob du bereit bist, dein Geschirr gleich nach dem Essen abzuspülen oder gemeinsam mit mir nach einem Weg zu suchen, wie unser beider Bedürfnis nach Ordnung erfüllt werden kann.»

Schon kochte die Wut in Jojo hoch. Wie er dieses Gerede hasste. Er hatte kein Bedürfnis nach Ordnung. Er konnte beim Anblick einer schmutzigen Socke, eines Turnschuhs und einer Mütze auf dem Fussboden wunderbar entspannen. Aber er konnte überhaupt nicht entspannen, wenn er in diesen Ordnungswahn eingezwängt wurde. Da sagte seine Mutter schon:

«Ich mag mich ja täuschen, aber ich habe den Eindruck, dass du wütend bist. Du weisst doch, wie schädlich Wut und jede Form der Aggression für das Zusammenleben in der Gemeinschaft und speziell in unserer häuslichen Gemeinschaft ist. Sollte da wirklich Wut irgendwo in dir vorhanden sein, müssten wir das unbedingt sofort angehen und behandeln lassen.»

Sie hatte Recht. Er musste unbedingt auf der Hut sein. Auf gar keinen Fall durfte seine Wut nach aussen sichtbar sein. Er hatte glücklicherweise einen Weg gefunden, damit umzugehen. Er liess auch jetzt wieder seine Wut hochsteigen bis zum Kopf und dann oben am Kopf heraussprudeln und über die Haut am ganzen Körper nach unten in den Boden rieseln. Er war stolz, dass er diese Methode gefunden hatte. So musste er die Wut nicht unterdrücken. Sie ging aus ihm heraus, und gleichzeitig war er auf eine seltsame Art besser geerdet. Er wurde stärker und mehr er selbst. Aber das reichte noch nicht. Er musste noch weiter gehen. Auch dafür hatte er einen Weg gefunden. Er nannte das «die Maske aufsetzen» und das tat er jetzt. Er stellte sich einfach vor, dass er eine nette, unverbindliche Maske aufsetzte.

«Ach Mama», sagte er mit einem schiefen Grinsen, «du täuscht dich, ich habe einfach einen Riesenhunger. Und es tut mir wirklich leid, dass das Geschirr ungewaschen geblieben ist. Du weisst ja, ich bin manchmal so in Gedanken, und da sehe ich es einfach nicht. Es tut mir wirklich leid. Ich weiss, wie wichtig Ordnung und Sauberkeit für dich sind. Es muss alles an seinem dafür bestimmten Platz sein. Nur wenn alles an seinem angestammten Platz ist, kann man störende Energien vermeiden. Nur so sorgen wir für den Fortschritt von Frieden und Harmonie auf unserem Planeten. Ich werde mich bemühen, in Zukunft mehr darauf zu achten.»

Seine Mutter war noch nicht zufrieden. «Jojo», sagte sie, «Riesenhunger ist nicht gut, du weisst das. Es ist ja nur Hunger, aber im Übermass bringt er dich aus dem emotionalen Gleichgewicht. Du solltest darauf achten, regelmässig zu essen. So vermeidest du Riesenhunger und bleibst im Gleichgewicht.»

Jojo hatte etwas Mühe, seine Maske weiter zu tragen. Aber es war wichtig. «Ja, Mama, ich weiss. Das nächste Mal nehme ich einen Powerbar und etwas zu trinken mit, wenn ich aus dem Haus gehe.»

Sie lächelte zufrieden. «Das ist gut Jojo. So ist es gut.» Auch Jojo lächelte zufrieden.

«Danke Mama», sagte er «vielen Dank.» Das zufriedene Lächeln war keine Maske mehr. Er war wirklich mit sich zufrieden. Er kam sich vor wie Dartagnan. Das war eine Figur aus dem Film «die drei Musketiere», den er einmal gesehen hatte. Der Film war schon einige hundert Jahre alt und spielte im achtzehnten Jahrhundert nach alter Zeitrechnung. Die drei Musketiere waren Abenteurer und fochten für die Freiheit. Sie fochten mit richtigen Degen. Dartagnan focht besonders elegant. Nun gab es keine Musketiere mehr. Es gab keine Degen mehr, und trotzdem hatte Jojo gerade ein Gefecht besonders elegant zu seinen Gunsten entschieden. Er hatte nicht gelogen. Er hatte sich keine Blösse gegeben. Seine Mutter hatte mal wieder ihren Willen durchsetzen wollen. Aber er hatte alle Versuche elegant abgewehrt. Sie war ins Leere gestossen mit ihrem Degen. Natürlich würde er sein Geschirr auch in Zukunft nicht abwaschen. Das war sein Protest gegen die häusliche Ordnung. Seine Mutter würde nichts sagen können. Er würde sich ja Mühe geben. Aber leider würde diese Mühe nie bis zur Tat führen.

«Auf ins nächste Gefecht», dachte er und musste sich gleich selbst korrigieren. Es ging nicht ins nächste Gefecht. Es ging in die nächste Maskerade. Es ging in die Schule. Natürlich musste er dazu nicht aus dem Haus gehen. Die Menschheit hatte schon lange erkannt, dass sie am wenigsten Energie verbrauchte, wenn sie sich möglichst nicht bewegte. Es war schon aus räumlichen Gründen nicht sinnvoll, in ein physisch existierendes Schulzimmer zu gehen. Denn wenn der Schüler zuhause war, stand das Schulzimmer leer, und wenn er in der Schule war, stand sein Zimmer zu Hause leer. Das war eine unverantwortliche Vergeudung von Platz. Es war energetisch viel effizienter, die Schule in den Cyberspace zu verlegen. Er musste nur die Realitätskappe aufsetzen und sich einloggen. Schon war er im Schulzimmer. Er sah die Mitschüler. Es waren nur zwanzig. Er sah den Lehrer. Es war, als wären sie alle körperlich im Klassenzimmer. Sie waren um ihn herum, und sie konnten tatsächlich miteinander kommunizieren. Er konnte normal reden, und die anderen konnten normal antworten. Die anderen waren tatsächlich da. Natürlich sassen alle körperlich zuhause, aber sie hatten sich in das Schulzimmer eingeloggt. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf das Schulzimmer konzentriert. In Wirklichkeit waren sie nicht da, wo ihre Körper waren. Sie waren da, wo ihre Aufmerksamkeit war. Sie waren wirklich alle im Schulzimmer. Das System merkte, wenn sie nicht mehr aufmerksam bei der Sache waren. Dann änderten sich nämlich die Hirnwellen von aufmerksamem Beta zu träumerischem Alpha. Und schon reagierte die Realitätskappe mit einem leichten Aufmerksamkeitsimpuls. Wo der Lehrer mit seiner Aufmerksamkeit war, wusste Jojo nicht so genau. Beim Lehrer war er sich nicht so sicher. Manchmal war er da und manchmal auch nicht. Das war auch sinnvoll. Wieso sollte der Lehrer das Wissen selber vermitteln. Es wurde einfach die optimale Wissensvermittlung, wie sie sich die besten Pädagogen der Welt ausgedacht hatten, einmal aufgezeichnet und mit der Stimme und der jeweiligen Gestalt des Lehrers wiedergegeben. Jojo fragte sich manchmal, was der Lehrer in dieser Zeit eigentlich tat. Unterrichtete er eine andere Klasse oder kaute er an den Fingernägeln? Bekam er auch Aufmerksamkeitsimpulse, wenn er wegdöste? Er wusste es nicht.

Auf jeden Fall waren in den letzten Jahrhunderten gewaltige Fortschritte in der Pädagogik passiert. Man musste nicht mehr schreiben. Es wurde mündlich kommuniziert. Das war der Urzustand der Menschheit vor der Erfindung der energieverschwendenden Schrift gewesen. Der war jetzt wieder hergestellt. Am besten lernte man durch Erfahrung. Darum wurde sehr viel Wissen in holographischen Szenen und Experimenten vermittelt. Das fand Jojo richtig cool. Und jetzt wurde das Wissen regelmässig abgefragt. Natürlich geschah das nicht in der Klasse, wo man sich vor den andern blamieren könnte, oder wo man seine Geltungssucht durch Zurschaustellen von übermässigem Wissen ausleben könnte. Es geschah in Einzelstunden mit dem Lehrer. Der Lehrer stellte Fragen, und man antwortete. Es gab kein Vorsagen, kein Abschreiben, keine Ablenkung. Manchmal wusste Jojo die richtige Antwort nicht. Da kam nie ein «falsch» oder so etwas. Der Lehrer reagierte dann sehr einfühlsam. «Gut, dass du es probiert hast, Jojo, bald wirst du es richtig können.» Wenn man die richtige Antwort sechsmal korrekt mündlich wiedergeben konnte, war das Wissen richtig verankert.

Alle Schüler waren in Jahrgangsklassen zusammen. Hochbegabte lernten friedlich neben Minderbegabten. Natürlich gab es schon lange keine Schulnoten mehr. Jeder bekam individuelles Feedback. Da es mündlich war, konnte man sich auch nicht mit den anderen vergleichen und so ungesunden Wettbewerb erzeugen. Wettbewerb führte zu Spannungen, und das war energetisch ungünstig.

Es gab nicht nur Unterricht für die ganze Klasse und Einzelunterricht. Es gab auch Hausaufgaben. Jojo liebte die Hausaufgaben. Da musste man das Gelernte in eigenen Worten wiedergeben. Man musste fliessend sprechen, wenn man stockte, machte das System einem Vorschläge. Das war eine trickreiche Angelegenheit. Die Vorschläge stammten nämlich nicht aus dem Schulsystem, sondern aus dem allgemeinen Sprachsystem. Heute war das Thema «Die harmonische Eingliederung der Menschheit in das System der Erde.» Zur Bearbeitung des Themas begann man zu sprechen. Wenn er also beginnen würde mit «die Erde ist eine…» und dann eine Pause machte, würde das System das Wort vorschlagen, das die Mehrheit der Menschen in diesem Zusammenhang verwenden würde. In diesem Fall wäre das «eine Kugel», man konnte dann mit «genau» bestätigen und fortfahren. In der normalen Kommunikation wäre das völlig ok, aber im Rahmen der Schule wäre das nicht gut, denn im Feedback würde es dann heissen: «Deine Beschreibung der Welt ist in erster Näherung korrekt. Du gibst dich mit einer groben Annäherung an die Realität in Übereinstimmung mit der breiten Masse der Menschheit zufrieden.» Das wäre nicht gut für seine Berufsaussichten. Im Mindesten würde er sagen müssen: «Die Erde kann von der Form her annähernd als rotationssymmetrisches Ellipsoid beschrieben werden.» Fatal wäre es hingegen, wenn er sagte. «Die Erde ist eine Scheibe.» Sofort würde das System nachfragen: «Bist du sicher?» Wenn er dann antwortete, «ja genau, es entspricht so der allgemeinen Erfahrung», würde das System noch zweimal nachfragen. Im Feedback hiesse es dann «Jojo beharrt auf seiner individuellen Sicht der Welt und verschliesst sich den Ergebnissen der Wissenschaft und einer Perspektive aus dem Ganzen heraus, was nicht zum Wohle des Ganzen ist.» Da könnte er sich alle Berufswünsche aus dem Kopf schlagen und gleich die Karriere als Masseur anstreben. Er machte sich also konzentriert an die Arbeit.

«Die Erde kann von der Form her annähernd als rotationssymmetrisches Ellipsoid beschrieben werden. Lange hat die Menschheit die Erde als eine Scheibe betrachtet. Erst um 1870 nach alter Zeitrechnung wurde sie als sogenanntes Geoid beschrieben. Das kann man auch als den Endpunkt der egozentrischen Beschreibung der Erde betrachten. Allerdings war es erst der Aufschwung eines anthropozentrischen Denkens und Handelns. Der Mensch betrachtete sich mehr und mehr als Krone der Schöpfung. Erst gegen Ende des 21. Jahrhunderts wurde der Menschheit bewusst, dass sie im Begriff war sich selber und das Leben auf der Erde auszulöschen. Es wurden dann sehr rasch lange bekannte grundlegende Erkenntnisse in Handeln umgesetzt. Zum einen erkannte man allgemein, dass der Mensch nicht Krone der Schöpfung ist, sondern einzig ein Tier mit besonders stark ausgeprägter Grosshirnrinde. Jedes Tier lebt in einer ökologischen Nische, und die ökologische Nische der Menschen ist die Stadt. Es lebten damals ohnehin bereits 95 % der Erdbevölkerung in grossen Städten. Diese Städte wurden zu Biotopen erweitert, die alle menschlichen Bedürfnisse erfüllen konnten. Die gesamte Menschheit zog sich in den Städten auf 5 % der Erdoberfläche zurück und überliess alles andere wieder der Natur. Natürlich stand es indigenen Völkern und auch sonst jedermann frei, auf dem Land, im Dschungel oder in der Steppe zu bleiben. Allerdings wurden ihnen die Zugänge zu den Städten und allen modernen Kommunikationsmitteln und Ressourcen nicht mehr möglich. Wer ausserhalb der Städte lebte, musste von seiner Hände Arbeit leben. Die ausserhalb der Städte verbliebenen Menschen stellten so keine Gefahr für die Natur oder gar die Erde als Ganzes dar. Die Natur stellte wieder eine Gefahr für diese Menschen dar.

Zum anderen erkannte man allgemein, dass die Menschheit nur so viel Energie verbrauchen konnte, wie sie selber erzeugte oder aus der natürlichen Sonneneinstrahlung erzeugen konnte. Der Bau von energieautarken Häusern war rasch so weit fortgeschritten, dass zum Heizen ausschliesslich Sonnenenergie ausreichend war. Damit blieb als letzter grosser Energieverbraucher das Mobilitätsbedürfnis der Menschen. Die Wirtschaft war schon länger dazu übergegangen, auf eigene Arbeitsplätze zu verzichten und die Menschen dort arbeiten zu lassen, wo sie auch lebten. Auch damit war die Menschheit zurück zu den gesunden Ursprüngen, wenn auch auf weitaus höherem Niveau. Noch im Mittelalter gab es keine Trennung zwischen Arbeitsstätte und Wohnstätte. Damit war damals aber auch der Wirkungskreis der mittelalterlichen Menschen sehr eingeschränkt. Die modernen Kommunikationsmittel erlaubten nun eine weltumspannende Zusammenarbeit, ohne Transporte nötig zu machen. Damit waren Transporte nur noch für die individuellen Mobilitätsbedürfnisse der Menschen nötig. Diese werden aus zwei Grundbedürfnissen gespeist, nämlich dem Bedürfnis nach neuen Sinneseindrücken und nach Begegnungen mit anderen Menschen. Mittlerweile hatte aber die Wissenschaft der Holografie enorme Fortschritte gemacht, die schliesslich zur Erfindung der Realitätskappen führten. Mit Hilfe der Realitätskappen konnte man sich an jeden gewünschten Ort, ja sogar imaginäre Orte, versetzen und mit jedem gewünschten Menschen kommunizieren, sofern der dazu bereit war. Es genügte, sich die Realitätskappe aufzusetzen und an den gewünschten Ort einzuloggen. Mittels Bewegungen des Kopfes konnte man sich in den virtuellen Welten bewegen. Schliesslich macht der Kopf den Menschen aus. Er ist Sitz der Grosshirnrinde und der Sinnesorgane sowie Sprachorgane. Alles andere sind nur Supportfunktionen. Es ist also nicht erstaunlich, dass die Realitätskappen einen eigentlichen Siegeszug über die Welt antraten. Mit dem Siegeszug der Realitätskappen ging der Niedergang der Industrie einher. Für neue Erfahrungen und Sinneseindrücke waren keine materiellen Gegenstücke mehr nötig. Es brauchte keine produzierende Industrie mehr. Von der unsäglichen Praxis des Essens von toten oder gar lebenden Tieren war man schon länger abgekommen. Tierische Produkte wie Milch oder Käse waren bald als schädlich erkannt und durch gesündere pflanzliche Produkte ersetzt, und pflanzliche Produkte wurden mehr und mehr von energetisch günstig zu erzeugende Zellkulturen verdrängt.

Damit ist die Menschheit heute harmonisch in das System der Erde integriert. Man kann eine moderne Stadt fast mit einem Bienenstock vergleichen. Nur fliegen von den menschlichen Bienenstöcken keine Menschen aus, holen Nektar von den Blüten und befruchten sie dabei. Die Menschen in den Städten atmen Kohlendioxid aus, das von den Pflanzen in den umliegenden Wäldern zum Wachstum verwendet wird. Die Pflanzen geben den Menschen in den Städten lebensnotwendigen Sauerstoff zurück. Die ursprüngliche Harmonie ist auf weitaus höherer Stufe wieder hergestellt.»

Jojo nahm die Realitätskappe ab und lehnte sich zufrieden zurück. Das war gut gelungen. Kürzer und eleganter könnte man die Sache wohl kaum darstellen. Er hatte sogar das Zauberwort Harmonie als krönenden Abschluss einbauen können.

Sein Aufsatz war natürlich Maskerade gewesen. Jojo hatte eine ganz andere Meinung von der Welt. Die Welt hatte sich für fast alle Menschen auf die Stadt reduziert, in der sie wohnten, und sie war grau und eintönig. Wenn man die Realitätskappe absetzte, sah man keine Farben mehr. Es war einfach alles aus grauem Beton oder Kunststoff. Farben wären ja die reinste Energieverschwendung gewesen. Heute wurde wieder für die Ewigkeit gebaut. Es war alles haltbar und solide und grau. Beim Bau und bei der Entsorgung wurde am meisten Energie verbraucht. Darum musste man möglichst langlebige Dinge bauen. Form und Farbe der Materie war sekundär. Sie war ja bloss Projektionsfläche für die individuellen Wirklichkeiten. Die Wirklichkeit existierte nur, wenn man die Realitätskappe aufhatte. Der Mensch existierte nur, wenn er die Realitätskappe aufhatte. Er grinste. Er existierte nun nicht mehr. Ohne die Realitätskappe konnte ihn niemand mehr erreichen. Und er konnte auch niemanden mehr erreichen. Er war aus der Welt verschwunden.

Kapitel 3

Der Eindringling

Jojo trat in den Wald. Dort blieb er zuerst einmal stehen und sog die würzige Luft in tiefen Zügen ein. Noch hing die Feuchtigkeit der Nacht zwischen den Bäumen. Noch stand die Sonne erst knapp über dem Horizont. Doch es versprach ein schöner Tag zu werden. Er hörte schon den Buchfinken zwischen den Zweigen der Bäume rufen. Ein warmes, tiefes Glücksgefühlt durchströmte seinen ganzen Körper. Hier war er zuhause. Dies war seine Welt. Er setzte sich auf den weichen, federnden Waldboden und strich mit den Händen über die Erde. Er spürte die spitzen abgefallenen Nadeln der Bäume unter den Fingern. Er fühlte, wie die Erde sich zwischen seinen Fingern krümelte. Dann lehnte er sich gegen den dicken Stamm einer Tanne, schloss die Augen und hörte dem Wald zu.

Er lauschte dem leisten Rascheln der Blätter über ihm, dem Plätschern des Baches weiter hinten und dem Gesang der Vögel überall. Den Star erkannte er, und der Stieglitz war auch schon wach. Irgendwo in der Ferne röhrte ein Reh. Er lächelte in sich hinein. Als er das erste Mal ein Reh gehört hatte, war er fürchterlich erschrocken. Dieses laute röhrende Bellen hatte ihm das Blut in den Adern gefrieren lassen. Dann hatte er das Reh gesehen, ein harmloses sanftes Reh hatte ihn so erschreckt, weil er es erschreckt hatte.

Das Lächeln war noch um seine Lippen, als er plötzlich erstarrte. Da waren Schritte weiter oben im Wald. Sie waren viel lauter als das Getrippel von Mäusen, stärker als das Tapsen eines streunenden Hundes. Es waren eindeutig menschliche Schritte. Doch das konnte nicht sein. Er war der einzige Mensch hier im Wald. Noch nie hatte er einen Menschen hier gesehen oder gehört oder auch nur Spuren im Wald gefunden, die von Menschen kündeten. Jetzt wusste er, warum das Reh geröhrt hatte. Es war von einem Menschen gestört worden. Dieser Mensch war nun hier in der Nähe. Jojo stand auf und lauschte. Die Geräusche kamen von weiter oben im Wald. Es waren keine Schritte mehr zu hören, eher ein Rascheln. Er ging leise, immer im Schutz der Bäume bleibend, auf das Geräusch zu. Unruhe ergriff ihn immer mehr. Da oben war ja der hohle Baum mit seiner Schatzkiste. Genau daher kamen die Geräusche, da bog jemand Zweige auseinander und brach einen davon ab. Er zwang sich, weiter leise zu schleichen. Nun war er dicht bei seinem Schatzbaum. Da stand eine schmale Gestalt bei seinem Baum. Sie war weit vornüber gebeugt, vermutlich öffnete sie schon den Deckel der Truhe. Sie war ja nicht verschlossen.

Mit drei grossen Sprüngen war Jojo bei der Gestalt und hatte sie fest von hinten gepackt. Er riss sie nach hinten, und dabei verlor er selber das Gleichgewicht. Er fiel auf den Rücken, und sie fiel auf ihn. Er liess nicht los, soviel sie sich auch wehrte. Sie rangen verbissen ohne einen Laut. So viel Gegenwehr hatte Jojo gar nicht erwartet bei der schmalen Gestalt. Aber bald hatte er sie fest im Griff. «Kesa Gatame», sagte er sich voll innerem Stolz, «alter japanischer Judo-Haltegriff.» Da sah er, dass er ein Mädchen fest im Griff am Boden hielt.

«Was tust du in meinem Wald», knurrte er sie an.

«Was tust du in meinem Wald», zischte sie wütend.

«Was hast du in meinem Baum zu suchen», fauchte er.

«Was überfällst du mich einfach von hinten», stöhnte sie.

«Wer bist du überhaupt», schnauzten sie sich gleichzeitig an, hielten erstaunt inne, und begannen ob der Gleichzeitigkeit zu lachen.

«Ich bin Jojo», sagte er.

«Ich bin Mattea», sagte sie, «und jetzt könntest du mich eigentlich loslassen.»

Jojo liess sie los, und beide standen auf. Nun schaute er Mattea genauer an. Sie war etwa in seinem Alter, vielleicht einen halben Kopf kleiner als er, zierlich und hatte das hellbraune Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Immer noch etwas kurzatmig vom Kampf schaute sie ihn aus dunkelbraunen Augen an. Dann grinste sie kurz und sagte,

«erfreut, dich kennenzulernen, Jojo, und nun kannst du mir vielleicht sagen, was du hier zu tun hast?» Jojo machte eine kleine förmliche Verbeugung und tat so, also ob er einen Hut hob,

«die Freude ist ganz meinerseits und die Frage auch.» Dann schaute er sie erwartungsvoll an. Mattea zögerte eine Weile mit der Antwort:

«Also gut, ich erzähle dir, was ich hier tue, und du erzählst, was du hier tust. Wie ich sehe, läufst du ja auch ohne Realitätskappe herum.»

Jojo nickte, «einverstanden», und Mattea begann zu erzählen:

«Also eigentlich lebe ich ja in der Stadt, genauer gesagt im Paulusquartier.»

«Oh, das ist dieses alte Quartier, das unter Denkmalschutz steht», warf Jojo ein, «da war ich noch nie, da stehen doch alle diese kleinen Häuschen, die nicht einmal richtig isoliert sind, oder?»

«Genau, und ich wohne mit meinen Eltern und meiner jüngeren Schwester Lucia in so einem kleinen Haus, und seit ungefähr zwei Jahren gehe ich regelmässig in den Wald.»

«Was?», fragte Jojo überrascht, «seit zwei Jahren gehst du regelmässig in den Wald? Ja hast du denn gar nichts in der Schule gelernt über die Gefahren des Waldes? Ich meine, bereits bei mässigem Wind können Äste und Zapfen herunterfallen. Ein abbrechender toter Ast genügt völlig, und schon bist du schwer verletzt oder gar mausetot. Und denke nur bei Sturm, da schwebst du im Wald in akuter Lebensgefahr. Da können Bäume plötzlich umfallen oder gebrochen werden. So ein Baum wiegt mehrere Tonnen. Wenn du es krachen hörst, bist du schon so gut wie tot. Da bleibt keine Zeit mehr, um wegzulaufen. Darum geht kein normaler Mensch in den Wald, und nicht einmal die anderen tun es. Schliesslich lauern da überall Zecken. Sie sitzen im Gras oder auf Blättern oder Zweigen. Kaum gehst du vorbei, lassen sie sich abstreifen und sitzen schon auf deiner Kleidung. Dann beginnen sie zu kriechen und sie kriechen und kriechen, bis sie ein Stück Haut entdeckt haben und stechen dich. Sie saugen sich an dir fest, sie saugen dein Blut auf, und gleichzeitig bringen sie ihre infamen Stoffe in deine Blutbahn. Davon bekommst du Borreliose oder Hirnhautentzündung. Daran kannst du sterben. Oder denke nur an den Fuchsbandwurm, der auf Früchten und Blättern sitzt und auf dich lauert. Vielleicht sitzt er schon in dir, und die tödliche Krankheit, die er mit sich bringt, bricht erst in einigen Jahren aus. Und dann ist da noch dieser Schmetterling, der Eichen-Prozessionsspinner. Seine Raupen haben kleine Härchen. Die trägt der Wind durch den Wald, wenn sie dich dann treffen, sondern sie ihr Gift auf deiner Haut ab. Das führt nicht nur zu Brennen und Jucken, am Ende bekommst du noch einen allergischen Schock und stirbst daran. Hast du das alles nicht in der Schule gelernt? Haben deine Eltern dir das nicht wieder und wieder gesagt? Wie bist du nur auf die Idee gekommen, regelmässig in den Wald zu gehen?»

Mattea sah ihn eine Weile sprachlos an, dann lachte sie und meinte: «na du hast ja die herrschende Meinung gut gelernt und bist trotzdem selber hier, wieso bloss?»

«Vermutlich», antwortete Jojo, «weil ich genauso verrückt bin wie du. Mir gefällt es hier einfach, und eigentlich habe ich die wichtigste Frage noch gar nicht gestellt. Auch wenn du auf die gefährliche Idee gekommen bist, in den Wald zu gehen, wie konntest du überhaupt hineingelangen? Es gibt ja keine Tore in der Stadtmauer, und über die Mauer klettern kann man nicht.»

«Ich lebe doch im Paulusquartier. Da steht seit vielen Jahrhunderten schon die Pauluskirche. Sie ist Teil der Stadtmauer. Es ist schier unglaublich aber wahr. In der Pauluskirche gab es immer schon eine kleine Tür, die nach draussen führt. Die ist natürlich verschlossen und einen Schlüssel gibt es schon lange nicht mehr. Aber das Schloss ist uralt. Das konnte ich mit einem hundskommunen Dietrich leicht öffnen.»

«Mit einem was?»

«Na, mit einem Dietrich!»

«Was ist das denn? Das Wort habe ich ja noch nie gehört.»

«Ich lebe doch im Paulusquartier. Da gibt es nicht nur uralte Häuser. In den Häusern gibt es auch uralte Sachen, Bücher zum Beispiel. Ich habe als Kind viel in diesen Büchern gelesen. So habe ich auch «Meisterdetektiv Kalle Blomquist» gelesen. Kalle war ein Junge in Schweden, und er hatte einen Dietrich. Das ist so etwas wie ein gebogener Nagel. So einen Dietrich habe ich mir gebastelt, und schon konnte ich die Tür öffnen.»

«Was als Kind schon?»

«Nein, erst viel später, erst vor zwei Jahren. Da stand ich vor dieser Tür und habe dieses Schloss angeschaut, und da fiel mir Kalle Blomquist wieder ein.»

«Und da hast du einfach so den Dietrich aus der Tasche gezogen, hast die Tür aufgeschlossen und bist hinausmarschiert?»

«Nein, natürlich nicht, aber da hatte ich das erste Mal das Gefühl, das ich hinaus müsste. Und ich wusste, dass ich auch hinaus könnte. Ich hatte ja gelesen, was ein Dietrich ist, und wie man ihn gebraucht. Dann ist das Gefühl immer wieder aufgetaucht, und es ist auch immer stärker geworden. Ich wusste nicht, was hinter der Stadtmauer ist. Ich wusste nur, dass da die Natur ist, und die Menschheit hat sich doch vor Hunderten von Jahren entschlossen, die Natur sich selbst zu überlassen und nur in der ökologischen Nische der Menschen zu leben, der Stadt. Die Natur geht die Menschen nichts an. Ich meine, das ist einfach so, und gleichzeitig ist dieses Gefühl immer häufiger da gewesen, und er ist auch immer stärker geworden, dieser Wunsch durch die Tür zu gehen.»

«Aber warum bist du nicht einfach in die Natur gegangen wie alle anderen auch. Ich meine, mit der Realitätskappe kannst du jeden Dschungel der Welt, jede Savanne Afrikas, jede Stadt im Mittelalter, jeden griechischen Tempel zur Zeit der alten Griechen besuchen. Du sitzt bequem und sicher zuhause und kannst alles wirklich erfahren, viel wirklicher als es die alten Griechen konnten. Und dazu noch ungefährdet. Keine Mikroben, keine Stürme, keine bösartigen Viren gefährden dich. Kein verdorbenes Essen bringt dich an den Rand des Todes, niemand überfällt dich oder bettelt dich an. Keine Zecke kriecht dein Hosenbein hoch bis in deinen Schritt und saugt sich da fest. Kein Regen durchnässt dich bis auf die Haut, keine Kälte friert dir fast die Zehen ab, kein Baum erschlägt dich.»

«Ach weisst du, ich kann es nicht rational erklären. Das stimmt ja alles, aber ich hatte einfach dieses Gefühl. Ich weiss nicht, woher es gekommen ist, aber es war da, und es wurde immer stärker. Alle Wirklichkeiten der Realitätskappe über die Natur sind mindestens zweihundert Jahre alt. Wir können in die Natur gehen, so wie sie vor zweihundert Jahren war. Seither hat sie niemand mehr gesehen. Seither ist sie tabu. Ich wollte und musste durch diese Tür. Ich wollte und musste sehen, was dahinter ist.»

«Hm, verstehe, und wie hast du es dann angefangen?»

«Zuerst habe ich natürlich nachgedacht. Ich musste ja vorsichtig vorgehen. Ich meine, in der Stadt ist nichts verboten. Es gibt schon lange keine Gesetze mehr, es gibt keine Polizei, keine Strafen, keine Gefängnisse. Und trotzdem verläuft alles in Frieden und Harmonie. Es gibt so viele Dinge, die niemand tut, einfach weil man sie nicht tut. Die Natur ist definitiv tabu. Ich wusste nicht, was passiert, wenn man ein Tabu bricht. Aber ich wusste sicher, dass nichts passieren würde, wenn ich dabei nicht gesehen würde. Was nicht gesehen wird, existiert nicht. Das ist so. Das weiss jeder. Es kann die Harmonie der anderen nicht stören. Also war es wichtig, dass ich auf keinen Fall gesehen wurde.»

«Na, das war ja wohl kein Problem. Es haben ja alle permanent ihre Realitätskappen auf. Die sehen nicht, was ausserhalb ihrer Wirklichkeit passiert.»

«Ach, das meinst du. Aber du kennst die Pauluskirche nicht. Das ist eine Kirche. In dieser Kirche trifft sich regelmässig diese kleine Gruppe. Sie nennen sich Christen. Die können machen, was sie wollen, solange sie andere nicht mit ihren wirren Ideen belästigen. Sie halten dort regelmässig ihre Versammlungen ab, heilige Messe, nennen sie das. Und dann ist da noch ihr Anführer, Priester nennen sie den. Der ist oft in der Kirche. Und das schlimmste: In der Kirche hat niemand eine Realitätskappe auf. Sie legen sie alle am Eingang ab. Dann sehen sie nur noch die kahle Kirche. Naja, sie haben etwas Schmuck, ein grosses goldenes Kreuz vorne in der Mitte und einige Statuen und Bilder. Also alles nicht besonders cool. Mit der Wirklichkeit der Realitätskappe nicht zu vergleichen. Aber so sehen sie natürlich jeden, der in der Kirche ist. Und einen Fremden würden sie sofort ansprechen.»

«Einen Fremden? Du bist doch vermutlich keine Fremde für sie. Sie müssen dich ja schon öfters in der Kirche gesehen haben, du wohnst doch in der Nachbarschaft und warst jedenfalls oft genug da, um diese Tür zu entdecken.»

«Ja das schon, sie kennen mich und haben mich auch schon angesprochen. Weisst du, sie sorgen sich um ihre Mitmenschen, sie fragen, ob es dir gut geht, und ob sie dir helfen können und so. Aber ich habe immer nur gesagt, dass mir die Atmosphäre in der Kirche so gut gefällt, da haben sie mich erstmal in Ruhe gelassen. Naja, jedenfalls habe ich herausgefunden, dass eine Stunde vor Sonnenaufgang nie jemand in der Kirche ist. Und eine Stunde nach Mitternacht auch nicht.»

«Also konntest du zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang ungesehen in der Kirche sein?»

«Genau, das erste Mal war ich kurz nach Mitternacht dort und habe die Tür aufgemacht und herausgeschaut. In der Dunkelheit konnte ich nicht so viel sehen, aber die Lichter der Stadt, machen die Umgebung doch mindestens etwas dämmrig. Da habe ich gesehen, dass zwischen der Stadtmauer und dem Wald auf fast einen Kilometer Länge nur ganz kurzes Gras wächst.» Jojo nickte grimmig und murmelte,

«ja sie nehmen es doch nicht so ganz genau mit der Natur. Die Stadtmauer ist nicht die eigentliche Grenze der Stadt. Der Waldrand ist die eigentliche Grenze. Soweit ich gesehen habe, ist überall zwischen Waldrand und Stadtmauer dieser breite Streifen kurzen Grases. Da fliegt der Sanitätsdienst regelmässig mit Drohnen drüber. Sie sprühen Substanzen, die alle Pflanzen verdorren lassen. Das geht dann fast zwei Wochen, bis wieder erstes Grün auftaucht. Und dann sprühen sie noch Substanzen, die alle Insekten vernichten. Schon schlau, wo keine Insekten und keine Pflanzen sind, sind auch keine anderen Tiere, wovon sollten die leben, und wo sollten die Deckung finden.»

«Genau, und als ich diesen breiten Streifen kurzen Grases gesehen hatte, wusste ich auch, dass ich nur zwischen Mitternacht und Morgendämmerung zur Tür hinaus und wieder herein konnte. Ich kann mir ja nicht vorstellen, dass irgendjemand oder irgendetwas jemals über die Stadtmauer nach draussen schaut, aber riskieren wollte ich es auch nicht.»

«Das heisst, du musstest beim ersten Ausflug in den Wald schon den ganzen Tag draussen vor der Stadt bleiben? Hattest du da keine Angst?»

«Natürlich hatte ich Angst. Auf der einen Seite wollte ich unbedingt hinaus, ich kann wirklich nicht sagen warum, es war einfach dieses Gefühl, das immer stärker wurde. Natürlich war da auch Neugier, ich wollte schon wissen, wie es draussen aussah und vor allen Dingen, wie es sich anfühlte. Auf der anderen Seite wusste ich von den Zecken und den herunterfallenden Ästen. Ich hatte auch gehört, dass es in der Natur Wildschweine, gibt, die schon Menschen getötet haben. Auch sollten Wölfe da sein, wilde Hunde und giftige Schlangen und Pflanzen, die dir die Haut verbrennen. Aber dieses Gefühl ist immer stärker und stärker geworden, dieses Gefühl, unbedingt den Wald erleben zu müssen. Vielleicht ist es das, was sie in den alten Büchern Sehnsucht nennen.»

«Und schliesslich hast du es dann getan.»

«Ja, schliesslich habe ich es dann getan. Ich habe überlegt, was ich für einen Tag im Wald alles benötigen würde, Wasser natürlich und etwas zu essen. Und dann brauchte ich noch einen Behälter für das alles. Den hast du ja wohl schon gesehen?»

“Was, den breiten Gürtel mit all den kleinen Säckchen daran? Hast du den selber gemacht?»

«Ja, das war schwierig genug. Ich musste mir Stoff beschaffen und Nadel und Faden, ich meine, wer braucht so etwas heute noch. Das war beinahe das grösste Hindernis. Dann habe ich in der Nähe diese Frauengruppe entdeckt. Die sind alle alt und pflegen alte Traditionen. Ich glaube die jüngst von ihnen ist dreimal älter als ich. Wie haben die sich gefreut, dass ich mich für die Mode von vor vierhundert Jahren interessiere. Sie haben mir mit Feuereifer Nadel und Faden und Stoffe beschafft, frage mich nicht wie und woher. Sie haben mir nähen und stricken und sticken beigebracht. Ach ich habe mir mehr als einmal die Finger blutig gestochen, und von diesen dünnen Nähnadeln werden dir die Fingerkuppen ganz wund. Natürlich habe ich meinen Gürtel heimlich genäht. Aber ich habe auch schon ein ganzes Rokokokleid fertig.»

«Ein was?»

Mattea drehte sich einmal um sich selber, hielt die Oberarme dich am Oberkörper und spreizte die Unterarme nach aussen. Sie lächelt vielsagend und etwas kokett.

«Ein Rokokokleid. Das stammt aus der Zeit um 1750 nach alter Zeitrechnung. Schau mich an, wo meine Fingerspitzen jetzt sind, ist bei diesem Kleid der Rock zu ende. Der hat ausserdem unendlich viele lange Falten. Original wären in den Stoff noch Gold- und Silberfäden eingewebt. Aber das ging natürlich nicht. Und oben hätte ich eine», sie hielt die Luft an und redete mit fast erstickter hoher Stimme, «Schnürbrust, also meine Brüste wären ganz in Ordnung, aber der ganze Brustkasten wäre zusammengeschnürt, sodass ich eine ganz schmale Taille hätte und nicht mehr richtig atmen könnte. Deswegen würde ich bei der kleinsten Aufregung in Ohnmacht fallen.»

Jojo sah sie verständnislos an und murmelte «vollkommen durchgeknallt.»

«Was durchgeknallt? Ich sage dir, diese alten Damen sind geradezu eine subversive Vereinigung. Natürlich weiss in der Wirklichkeit der Realitätskappe niemand etwas davon. Nach aussen haben sie ein rein historisches Interesse an all diesen Dingen. Also wenn jemand in der Wirklichkeit wüsste, dass wir da Rokokokleider nähen, ich kann mir nicht ausdenken, was passieren würde.»

«Aber das muss dich ja mindestens ein halbes Jahr gekostet haben!», platzte Jojo heraus.

«Das hat es auch, aber schliesslich war ich soweit. Ich konnte meine Expedition starten. Natürlich liess ich meine Realitätskappe im Bett. Der Mensch ist da, wo seine Realitätskappe ist, und bei Menschen in meinem Alter schöpft niemand Verdacht, wenn sie mal einen ganzen Tag nicht aus dem Bett kommen.»

«Und deine Eltern, was haben denn deine Eltern gesagt?»

«Ach die sind sehr grosszügig. Denen habe ich gesagt, dass ich das ganze Wochenende bei einer Freundin verbringen würde. Da war ich auch zuerst. So hatte ich genügend Zeit, falls etwas schief gehen würde. Ich bin also kurz vor Morgengrauen in die Kirche gegangen, und dann habe ich die Tür geöffnet und bin nach draussen getreten. Zuerst ging alles problemlos. Ich meine ausserhalb der Stadtmauer ist es ziemlich genauso wie innerhalb der Stadtmauer.» Jojo protestierte:

«Also naja ausser, dass ausserhalb die Natur ist und innerhalb der Mensch.»

«Nein, ich meine nicht das Äusserliche. Ich meine das Innerliche. Also das Gefühl. Vom Gefühl her ist da kein grosser Unterschied. Also ich war natürlich aufgeregt und hatte etwas Angst, aber aussen, also im Gefühl um mich herum sozusagen, war da kein grosser Unterschied. Wie soll ich das bloss erklären? Also ich nehme an, du läufst manchmal ohne Realitätskappe durch die Stadt?»

Ein breites Lachen zog um Jojos Mund als er antwortete: «manchmal ist etwas untertrieben. Ich tue das in der Tat mehr als manchmal.»

«Genau, und das Gefühl um dich herum, ich meine in gewissen Strassen, in gewissen Wohnungen, bei dir zuhause, ist sozusagen neutral.»

«Also bei mir zuhause ist es nervend, aber ich glaube ich weiss, was du meinst, ich würde das langweilig nennen.» Mattea seufzte leise und sagte,

«lass mich das nochmals etwas erklären. Ich weiss nicht, wie ich mich ausdrücken soll, natürlich sind alle Gefühle in dir drinnen. Es gibt aber Gefühle, die kommen sozusagen aus dir heraus und es gibt andere Gefühle, die kommen sozusagen in dich herein. Sie tauchen alle in dir auf, aber ihr Ursprung ist nicht immer in dir.»

Nun war es an Jojo leise zu seufzen, ehe er antwortete: «Hm, lass mich mal überlegen. Ein Teil ist einfach. Es gibt Gefühle, die bringe ich hervor, das kenne ich. Dazu gehören bei mir zum Beispiel Abneigung, Widerwille, Abscheu, Ekel und so. Aber da muss zuerst etwas aussen sein, ein stinkender Fischkopf, Erbrochenes, Fäkalien. Und daran entzündet sich dann mein Gefühl. Das muss nicht zwanghaft so sein, es gibt ja offenbar sogar Leute, die lecken sich die Lippen nach Fischköpfen. Und bei positiven Gefühlen wie Freude, Erleichterung, Stolz ist das auch so. Und wohl auch bei Angst, Panik, Wut, Enttäuschung. Das verstehe ich. Gefühle kommen nicht einfach so, wenn ich zuhause im Bett sitze. Da gibt es immer einen äusseren Anlass wie den stinkenden Fischkopf oder meine nervenden Eltern. Obwohl», er zögerte einen Augenblick. «Ich habe auch schon im Bett gesessen und war enttäuscht und da war kein äusserer Anlass, ich habe da an ein enttäuschendes Erlebnis in der Vergangenheit gedacht, und dann war ich wieder enttäuscht.» Jojo schaute Mattea fragend an, dann redete er weiter, «Ok, ich habe noch nie zuhause im Bett gesessen und nichts gesehen oder gehört oder gerochen oder gedacht und dann ist ein Gefühl in mir aufgetaucht.»

Mattea lächelte etwas unsicher. «Das war bei mir auch so, jedenfalls in der Stadt, aber im Wald hat sich das geändert. Kaum hatte ich diesen Streifen mit dem kurzen Gras hinter mir gelassen und bin in den Wald gekommen, wurde ich von Gefühlen übermannt. Sie sind in mir aufgetaucht, wie Gefühle das tun, aber ich habe sie nicht hervorgebracht, ich war wie ein Wahrnehmungsorgan für Gefühle, die um mich herum waren. Das habe ich natürlich erst später herausgefunden. Und übermannt ist eigentlich auch nicht das richtige Wort. Man wird ja von Schmerz übermannt, aber so war das nicht. Es war nicht so stark aber es war ganz klar da. Du weisst ja, dass es nicht so einfach ist, in den Wald zu gelangen. Am Rand des Waldes stehen überall dichte Büsche, Brombeergestrüpp, Brennnesseln und so. Da habe ich mich zuerst vorsichtig durchgeschlängelt. Da habe ich nichts gespürt von aussen – ausser Stacheln, und Brennnesseln und so. Im Wald drinnen wurde es dann offener, da kam ich leichter voran. So kam ich schliesslich zu einem Hügel und je näher ich dem Hügel kam umso mehr wurde ich von – ich weiss nicht, ob du das Wort kennst - Güte erfüllt und von einer heiteren Gelassenheit. Mitten auf dem Hügel stand ein grosser Baum, da habe ich mich drunter gesetzt, und da ist dieses Gefühl von Güte und Gelassenheit immer stärker geworden. Das hat mich ganz schön verwirrt. Also, diese Gefühle passten ja gar nicht zu meiner Situation. Wieso sollte ich jetzt von so heiterer, gütiger Gelassenheit erfüllt sein? Spannung, Aufregung, Entdeckerlust, von mir aus auch Angst hätten viel besser gepasst. Aber wieso war ich jetzt so gütig und gelassen heiter? Da sass ich eine Weile. Ein Teil von mir, der wohl eher im Kopf lebte, war verwirrt über den anderen Teil von mir, der wohl eher im Herz lebte und erfüllt war von Güte und Gelassenheit und dieser Heiterkeit. Später habe ich dann herausgefunden, was das war. Das war der Baum auf dem Hügel. Das war eine Linde und diese Linde hat um sich herum diese Gefühle erzeugt und ich habe das gespürt. Ich habe es aber nicht um mich herum gespürt. Ich habe es in mir drinnen gespürt.

Schliesslich bin ich weiter gegangen, und langsam ist auch dieses ungewohnte Gefühl vergangen. Ich bin tiefer und tiefer in den Wald gekommen, und schliesslich kam ich in eine Gegend, da standen einige grosse Bäume. Da wurde ich wieder von einem ungewohnten Gefühl ergriffen. Diesmal war es, wie soll ich sagen, eine Mischung aus Erhabenheit und Stärke und einem Schmunzeln. Die tauchten in mir auf. So fühlte ich mich mehr und mehr. So fühlte ich mich im Herzen, und gleichzeitig sagte mein Kopf, Mattea nun beginnst du zu spinnen. Warum solltest du dich jetzt stark und erhaben fühlen. Du bist ja so klein und verloren in diesem Wald. Das waren natürlich nicht meine Gefühle. Das waren die Eichen um mich herum. Grosse alte Eichen die sind so.»

Mattea schwieg und schaute Jojo etwas befangen an, dann meinte sie, «ja so war mein erster Tag im Wald. Jetzt weisst du es. Nun habe ich dich fast zu Tode geredet. Nun bis du dran mit Reden.»

Jojo stöhnte leise, «ich kann jetzt nicht reden, ich sterbe fast vor Hunger, erst muss ich etwas essen. Schau wie hoch die Sonne schon am Himmel steht. Es ist Zeit zum Mittagessen.»

«Mittagessen?» Mattea schaute ihn fragend an. Dann meinte sie etwas verlegen, «ich weiss ja nicht, was du essen willst. Ich habe mir etwas aus der Stadt mitgebracht. Du kannst etwas abhaben. Wir haben ja die Realitätskappen nicht dabei, also sieht es nicht so toll aus, und ohne Gewürzmischungen aus der Stadt schmeckt es auch nach nichts. Aber es ist nahrhaft und gesund. Ich habe Sonnenmenü 3 mitgenommen. Ich bin ja den ganzen Tag draussen. Da ist Sonnenmenü 3 gut geeignet. Es hat relativ wenig Vitamin D, weil man das ja nicht braucht, wenn man viel an der Sonne ist und viel Vitamin C, weil man an der Sonne und der frischen Luft natürlich viel Antioxidantien braucht. Stufe 3 an Kalorien, das sind 2000 kcal. Genug für mich für einen Tag. Und zwei Liter Wasser habe ich natürlich auch mit. Sonnenaktivität 3. Also sehr mineralreich. Das ist gut, wenn man viel schwitzt. Das können wir natürlich alles teilen, wenn du möchtest.»

Jojo lächelte, «ja lass uns teilen, aber bei meinem Mittagessen musst du mutig sein. Ich habe heute Waldmenü Sommer gewählt. Heute gibt es frische Walderdbeeren mit Haselnüssen und Bachwasser. Die Erdbeeren sind superfrisch, die hängen nämlich noch an den Pflanzen. Dafür sind die Haselnüsse vom letzten Herbst.»

«Was du isst Sachen aus dem Wald? Hast du keine Angst?»

«Angst? Ach was, ich tu das schon lange, und ich lebe immer noch. Hast du noch nie Walderdbeeren gegessen? Komm ich zeig sie dir. Du musst sie einzeln in den Mund stecken, aber ganz langsam, damit sie kurz zwischen den Lippen bleiben und du ihre Haut spüren kannst, dann mit der Zunge am Gaumen zerquetschen und auf der Zunge zergehen lassen, aber ganz langsam, ah, dann entfaltet sich ihr wunderbares fruchtig-säuerliches Erdbeeraroma, es füllt deinen ganzen Mund und steigt dir wie von innen in die Nase, dann ertastest du mit der Zunge all ihre kleinen Körnchen und reisst dich zusammen und spürst, wie der süsse Saft dir langsam hinten in den Rachen fliesst, bis du nicht mehr widerstehen kannst, und du schlucken musst. Und wenn du dann einen Schluck Bachwasser nimmst aber nicht gleich herunterschluckst, sondern ihn im Mund hin- und her rollen lässt, dann spürst du das leise Echo der Erdbeeren in deinem Mund.»

«Ok, einverstanden, bring mich ins Esszimmer.»

Die nächste Stunde verbrachten Jojo und Mattea mit Essen. Sie suchten die Erdbeeren, die sie am rötesten anstrahlten, pflückten sie vorsichtig, und liessen sie sich auf der Zunge zergehen, sie tranken Wasser aus dem klaren Bach, und sie knackten Haselnüsse mit Steinen und kauten sie langsam.

Kapitel 7

Der rätselhafte Riku

Jojo stand vor dem Eingang des Dojo. Es war dunkle Nacht. Es würde sicher noch mehr als eine Stunde dauern bis zum ersten Morgengrauen. Jojo wartete. Er schaute in die Dunkelheit. Dort bewegte sich etwas. Jemand kam auf ihn zu. Er näherte sich ihm lautlos. Dann legte er ihm die Hand auf die Schulter. Er sprach leise. «Ich bin gekommen Jojo, wie abgemacht. Ich bin wirklich gekommen.»

«Das ist gut, Mark. Das ist sehr gut. Nun lass uns gleich gehen.» Jojo drückte Mark die Hand. Er sah ihm kurz in die Augen und wandte sich zum Gehen. Mark folgte ihm. Schon bald waren sie in den Schatten der Nacht nicht mehr zu sehen. Es war auch niemand da, der sie hätte sehen können. Nachts blieben die Menschen zuhause. In der Dunkelheit der Nacht funktionierten die Realitätskappen nicht. Um etwas in der Wirklichkeit der Realitätskappen zu sehen, benötigten sie ein Minimum an Licht. Selbst bei Vollmond war draussen nicht genügend Licht vorhanden für die Realitätskappen. Nachts war es unendlich langweilig draussen. Darum gingen die Menschen nachts nicht hinaus.

Jojo und Mark gingen fast eine Stunde lang durch die Schatten der Nacht. Sie gingen und sprachen kein Wort. Dann blieb Jojo stehen. Sie hatten den Deckel im Boden erreicht. Nun begann Jojo leise zu sprechen. «Ich hebe jetzt den Deckel an. Darunter ist eine Leiter. Die steige ich hinunter. Wenn ich im Loch verschwunden bin, kannst du mir gleich folgen. Dann schliesst du den Deckel über dir. Auf der Leiter benötigst du kein Licht. Steig einfach hinunter und pass auf, dass du mir nicht auf die Finger trittst.» Sie stiegen schweigend die Leiter hinunter. Jojo hörte das Wasser unten plätschern, er hörte wie Mark vorsichtig den Fuss aufsetzte, und er hörte Marks Atem. Unten knipste er die Taschenlampe an. «Ich gehe voran.» Er grinste und fuhr fort: «Verlaufen kannst du dich nicht. Es geht immer dem Wasser nach, entgegen der Fliessrichtung.» Sie gingen wieder schweigend. Jojo lauschte dem Rauschen des fliessenden Wassers. Er genoss dieses Geräusch. Es war das Geräusch der Verheissung. Es sprach zu ihm von der Verheissung des Waldes. Schliesslich hatten sie das Ende der Röhre erreicht. Jojo stemmte sich gegen das Gitter und stiess es nach aussen. Dann liess er Mark den Vortritt. «Komm, noch zwei Schritte, und du bist im Wald.» Mark ging zehn Schritte. Dann blieb er stehen und wartete, bis Jojo das Gitter wieder zurückgeschoben hatte und zu ihm aufschloss.

«Du, Jojo», sagte Mark, fast flüsterte er, «die Geräusche hier, sie sind so fremd. Ich kenne keines davon. Ich kenne doch nur die Geräusche der Stadt.»

«Ach, ich kann dir den Wald kurz vorstellen. Horch mal ganz nach oben. Da schweift der Wind leise über die Wipfel der Bäume. Er ist ganz sanft heute, der Wind. Aber er kann auch anders. Er kann tosen und brausen und heulen und pfeifen. Aber heute ist er gesittet und sanft. Darum hörst du noch mehr dort oben in der Luft, hör genau hin, da hörst du den Flügelschlag der Eule, schattengleich schlägt sie ihre Flügel, du kannst ihr Rauschen fast nicht vom Wind unterscheiden, und doch ist es anders. Du hörst den Willen der Eule darin.»

«Sei still jetzt, Jojo, ich möchte selber lauschen.»

So standen sie eine Weile still. Dann begann Mark leise zu sprechen. «Ah, jetzt höre ich den Bach. Dort hinter dem Gitter, wo sie ihn in den Kanal eingezwängt haben, von da tönt er dunkel und hohl zu uns her. Und hier vor unseren Füssen da plätschert er leicht und lustig und hell und strömt dahin. Und da ist noch ein Geräusch im Bach. Es hört sich fast so an, wie wenn ich mit den Fingern der einen Hand über die andere leise streiche.»

«Es ist noch dunkel, du siehst es nicht, aber ich kann dir sagen, ich glaube ich weiss, was das ist. Da streicht das Wasser leicht über die Kiesel am Ufer hin. Nachher, wenn es hell geworden ist, dann siehst du es. Mitten im Bach da ist immer Wasser, aber am Rande, da kommt es nicht immer hin. Da liegen kleine, feine Kieselsteine, und manchmal kommt das Wasser in einer leichten Welle, streicht über sie hin und streichelt sie, und lässt sie feucht glänzend zurück.»

Sie standen weiter still und lauschten, und während sie dort standen, näherte sich weit hinter ihnen die Sonne dem Horizont. Langsam traten die Bäume aus dem Schatten der Nacht heraus. Die Buche begann, ihre glatte, graue Haut zu zeigen. Die Eiche liess erst Teile ihrer runzligen Rinde sehen und verbarg ihre Risse noch im Schatten. Hell liess die Birke weisse papierne Flecken aufscheinen, und man konnte nicht unterscheiden, ob dazwischen die Schwärze der Birke oder die Schwärze der Nacht lag.

Sie standen noch lange da und lauschten den Geräuschen des Waldes und sahen zu, wie die Bäume und Büsche ihre Blätter langsam grün färbten. Sie sahen zu, wie der Himmel sich erhob aus der Schwärze der Nacht und allmählich grau und schliesslich blau wurde. Dann trafen die ersten Strahlen der Sonne den Wald und liessen die grünen Tannennadeln in den Spitzen der Baumkronen hell strahlen.

«Komm», sagte Jojo, «wir setzen uns in die Sonne, und dann erzähle ich dir, was dich heute erwartet.»

«Was erwartet mich denn? Ich nehme an, der Wald wartet nicht wirklich auf mich. Ich meine, ich will den Wald kennen lernen. Der Wald will mich sicher nicht kennen lernen.»

«Der Wald wohl nicht, jemand anderes hingegen schon.»

«Komm, tu nicht so geheimnisvoll. Wer wartet auf mich? Eine Ameise? Ein Reh? Ein Hirsch?»

«Nein, alles falsch, du wirst es nie erraten, aber probiere es noch zwei- oder dreimal.»

«Ok, freut sich vielleicht eine Zecke auf mein süsses Blut? Oder will eine Mücke mich stechen? Oder willst du mich vielleicht in das Revier eines Wildschweins führen?»

«Alles verkehrt. Eine Waldfee natürlich. Heute erwartet dich eine Waldfee. Genauer gesagt erwarten wie sie. Sie kommt nämlich hierher und erwartet, uns hier zu sehen. Sie kommt von weither, nur um dich zu sehen.»

«Komm, du willst mich auf den Arm nehmen.»

Jojo lachte. Dann wurde er ernst und sagte «nein, wirklich nicht. Ich hätte es dir schon vorher sagen sollen. Aber die Stadt war nicht der richtige Ort dafür. Ich meine, die Stadt ist nicht der richtige Ort, um die Geheimnisse des Waldes auszuplaudern. Nun haben wir etwas Zeit, bis die Waldfee kommt. Ich erzähle dir alles.» Und Jojo erzählte. Er erzählte von Anfang an, wie er in den Wald gekommen war, wie er den Wald langsam kennen gelernt hatte, wie er den Mann gesehen hatte, der durch die Ödnis zum Wald hinaufgelaufen war, und von dem Buch. Er erzählte vom hohlen Baum, von Mattea, vom Paulusquartier und von Erdbeeren. Mark hörte zu. Er fragte nicht viel, er sagte nicht ‘ah’ oder ‘oh’ oder ‘was du nicht sagst’. Er hörte einfach zu. Als Jojo geendet hatte, stand die Sonne schon ziemlich hoch am Himmel.

«Eigentlich sollte sie schon längst da sein», sagte Jojo, «sie verlässt die Stadt doch immer im Schutze der Dunkelheit. Da sollte sie wirklich schon da sein.»

«Keine Sorge, sie wird gleich da sein. Ich höre Schritte auf dem Waldboden. Ah, siehst du, da kommt sie schon.» Mark unterbrach sich und fuhr dann fort, «ich wollte sagen, da kommen sie schon. Jojo, hast du mir wirklich alles erzählt?»

Jojo schaute in die Richtung, in die Mark gezeigt hatte, und pfiff dann leise durch die Lippen. «Da kommen zwei Waldfeen», sagte er, «aber sie hat gar nichts davon gesagt. Sie hat nicht erzählt, dass sie auch noch jemanden mitbringt. Zuerst hat sie solche Bedenken gehabt, als ich dich mitbringen wollte. Und nun bringt sie selber jemanden mit – einfach so.»

Sie gingen den beiden entgegen. «Hallo Mattea», sagte Jojo, «darf ich dir Mark vorstellen.» Und er fand es plötzlich schade, dass er Mark mit in den Wald gebracht hatte, denn mit Marks Anwesenheit war diese Vertrautheit zwischen ihm und Mattea verschwunden. Es war als würde die Vertrautheit sich vor fremden Blicken fürchten und einfach weglaufen.

«Hallo Mattea», sagte auch Mark und gab Mattea die Hand. «Ich bin Mark.»

«Ich bin Mattea, schön dich kennen zu lernen», sagte Mattea, «und das hier ist Lucia.»

Lucia war fast gleich gross wie Mattea und genauso zierlich wie sie. Fast konnte man sie drahtig nennen. Sie hatte lange blonde Haare, die ihr bis über die Schultern reichten, und blaue Augen. «Hallo Lucia», sagte Jojo und gab ihr die Hand.

«Hallo Lucia», sagte auch Mark und gab ihr ebenfalls die Hand. Dann schauten die beiden Mattea erwartungsvoll an. Mattea schaute zurück. Sie hatte einen merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. Man konnte nicht genau sagen, ob sie verärgert oder belustigt aussah. Es war fast eine Mischung von beidem. Dann begann sie zu erklären: «Das ist Lucia. Sie ist meine Schwester. Sie ist mitgekommen. Das heisst, ich musste sie mitnehmen. Ich konnte nicht anders. Sie hat mir aufgelauert im Beichtstuhl in der Kirche. Als ich gerade daran war, die Tür von der Kirche nach draussen mit dem Dietrich zu öffnen, stand sie plötzlich neben mir. Sie wollte mit. Sie hat gedroht, mich zu verraten, falls ich sie nicht mitnähme. Ich meine, was wollte ich machen. Da habe ich sie mitgenommen. Auf dem Weg hierher ist meine Wut über sie verraucht. Und nun sind wir hier. Lucia, du kannst nun selber erzählen, warum du unbedingt herwolltest, und wer du überhaupt bist.»

«Ja», sagte Jojo, «das wäre nicht die schlechteste Idee, Lucia, erzähl mal. Aber vorher können wir doch rüber zum Bach gehen. Da sitzt man bequem und kann trinken, wenn man Durst hat.»

Sobald sie sich alle beim Bach auf den Boden gesetzt hatten, schauten Jojo und Mark Lucia erwartungsvoll an.

Sie begann zu sprechen: «Also ich bin Lucia. Ich bin die Schwester von Mattea und eigentlich ist es Matteas Schuld, dass ich jetzt hier bin.»

Mattea brauste auf: «Wieso meine Schuld? Ich wollte dich nicht mitnehmen. Du wolltest mitgehen.»

«Das schon, aber du hast mich überhaupt erst auf die Idee gebracht, mitzugehen.»

«Wieso? Ich habe doch gar nichts erzählt vom Wald. Ich habe nicht die leiseste Bemerkung gemacht zum Wald.»

«Gesagt hast du nichts, aber verändert hast du dich. Du warst, wie soll ich sagen, du warst irgendwie fröhlicher und, hm, lebendiger als sonst. Und du warst fast jeden Sonntag bei deiner Freundin. Das warst du sonst nicht. Mama und Papa finden ja, man soll sein eigenes Leben führen. Sie haben ja Verständnis, dass du nichts erzählen willst. Sie finden ja, du bist alt genug für ein eigenes Leben. Sie sind ja froh, wenn du nicht immer zuhause rumhängst. Die haben sicher auch gesehen, dass deine Haut ein wenig dunkler geworden ist, aber das ist ihnen vermutlich egal. Sie finden Sonne ja sogar gut. Und mir wäre das eigentlich auch egal gewesen. Aber dann habe ich deine Realitätskappe entdeckt. Die hattest du im Bett versteckt. Du kannst froh sein, dass ich Mama und Papa nichts davon erzählt habe. Da habe ich mich schon gefragt, wo du hingehst so lange ohne die Realitätskappe. Das ist ja absolut öde ohne die Kappe. Und so toll kann deine Freundin auch nicht sein. Und an irgendeinen Typen habe ich nicht geglaubt. Die kann man ohne Kappe auch nicht aushalten. Da musste etwas anderes sein. Also habe ich angefangen aufzupassen.»

«Aufzupassen? Nachspioniert willst du wohl sagen!» Bei diesen Worten sah Mattea eindeutig genervt aus.

«Wieso spionieren? Ich wollte einfach herausfinden, was du so treibst. Ich wollte bloss wissen, wieso du plötzlich so viel lebendiger bist. Und fragen konnte ich wohl kaum. Dann hättest du bloss gesagt ‘lebendiger, so ein Blödsinn. Ich lebe einfach, man kann nicht lebendiger oder weniger lebendig sein. Man kann nur leben oder tot sein. Man kann ja auch nicht tot oder toter sein. Frag nicht so einen Blödsinn’. Also habe ich bloss versucht das herauszufinden, ohne dich fragen zu müssen.»

Jetzt huschte eindeutig so etwas wie ein Lächeln über Matteas Gesicht. «Das stimmt», sagte sie, «das hätte ich wirklich geantwortet auf so eine doofe Frage. Und dann hätte ich natürlich aufgepasst, dass ich nicht irgendwie anders wirke.»

Nun mischte sich Jojo in das Gespräch ein: «Du, Mattea, was hast du Lucia von uns erzählt? Was weiss sie von uns? Und was tun wir jetzt?»

«Erzählt habe ich eigentlich gar nicht viel. Ich habe bloss erzählt, dass ich jetzt durch den Wald müsse, weil ich mich mit jemandem treffen wolle. Ich habe erzählt, dass ich zwei Jungen treffe. Und nun sind wir da.»

Jojo stöhnte leise und sagte dann: «Also sind die Zeiten, in denen ich den Wald für mich allein hatte, wohl definitiv vorbei. Jetzt sind wir so viele. Da können wir geradezu einen Club gründen. Den Club der Waldmenschen oder so.»

«Ach», meinte Mark, «das finde ich nicht so schlimm, dass Lucia da ist. Vier sind doch besser als drei. Bei dreien, da kommt es leicht vor, dass es zwei und einer sind. Drei sind kein Paar und keine Gruppe. Aber vier sind schon eine kleine Gruppe. Das ist gar nicht schlecht.»

Nun meldete sich auch Lucia wieder zu Wort: «Also da hat er definitiv recht. Und ausserdem haben wir etwas gemeinsam. Wir wollen alle den Wald kennen lernen. Das ist zu viert sicher lustiger und auch sicherer als allein.»

Jojo blickte Mattea unsicher an. Da war noch die Sache mit dem Buch. Wie sollten sie das jetzt machen? Eigentlich hätte er das gerne mir ihr allein besprechen wollen. Aber gleichzeitig kam es ihm völlig unpassend vor, sich in der jetzigen Situation mit ihr von den beiden anderen abzusondern, und etwas nur zu zweit zu besprechen.

Mattea schien seine Frage zu spüren und zuckte wie zur Antwort mit den Schultern. Jojo nahm das für ein ‘rede doch von dem Buch, ist sowieso schon eine merkwürdige Situation, keine Ahnung wie das noch endet’. Das konnte er natürlich nicht wissen. Schliesslich hatte sie nur mit den Schultern gezuckt. Aber er nahm es mal so auf und sagte also:

«Dann ist da noch die Sache mit dem Buch. Wir haben hier noch ein Buch.»

«Was», prustete Lucia los, «ihr habt ein Buch hier im Wald? Wir haben Hunderte von Büchern daheim. Man muss doch nicht in den Wald gehen, um ein Buch zu lesen.»

«Wir haben überhaupt kein Buch zuhause», sagte Mark bloss, und Jojo fügte hinzu:

«wir auch nicht. Und ausserdem ist dies kein Buch für die Stadt. Es gehört in den Wald.»

Lucia sah ihn völlig erstaunt an und fragte dann: «Ok, heute liest niemand mehr Bücher, ausser bei uns daheim, weil wir etwas seltsame Eltern haben. Aber nach allem, was ich weiss, gehören Bücher in Häuser und Wohnungen. Sie gehören in gute Stuben, in Bücherregale, aber mit Sicherheit nicht in den Wald.»

«Dieses schon», erwiderte Jojo, und dann erzählte er die ganze Geschichte des Buches. Lucia und Mark hörten ihm gebannt zu, und keiner unterbrach ihn. Als er am Ende seiner Geschichte angelangt war, fügte er hinzu:

«Darum gehört das Buch in den Wald. Es ist auf irgendeine Art in der Stadt in Gefahr. Irgendjemand ist daran interessiert und darf es nicht bekommen. Und dann ist da noch etwas. Mattea und ich haben angefangen, in dem Buch zu lesen. Zuerst dachten wir, es sei von einem Verrückten geschrieben, von einem psychisch Kranken genauer gesagt, und dann haben wir plötzlich gemerkt, dass er unsere Symptome beschrieben hat und irgendwie gar nicht verrückt war.» Jetzt unterbrach ihn Mark und fragte:

«Willst du mir sagen, dass du psychisch krank bist? Davon habe ich ja gar nichts gemerkt. Sind deine Tabletten so gut eingestellt?»

«Also, wenn du es genau wissen willst», antwortete Jojo, «habe ich ziemlich viele Symptome des Schizoiden, das heisst ich sehe Sachen, die nicht da sind, und aggressiv bin ich auch noch. Natürlich bekomme ich Medikamente, aber ich nehme sie nicht. Ich nehme sie schon seit drei Jahren nicht mehr. Jetzt kannst du den Mund wieder zuklappen, Mark.»

Mark schloss den Mund wieder, er sagte aber nichts, denn schon hatte Lucia angefangen zu sprechen: «Ha, dann passt du ja gut zu Mattea, die nimmt ihre Tabletten auch nicht.»

«Woher weisst du das denn?», fuhr Mattea sie an.

«Naja, wenn man eine nicht ganz blöde Schwester hat, kann man nicht so viel vor ihr verbergen», antwortete Lucia, «aber ich finde das eigentlich ganz ok. Bei uns in der Gesellschaft gibt es ja nicht Gut und Böse. Da gibt es nur gesund und krank. Und irgendeine Ärztegesellschaft entscheidet, was krank und was gesund ist. Gesund ist, was einen selbst und die anderen nicht stört. Krank ist der Rest. Ich bin ziemlich sicher, dass zu grosse Intelligenz bald auch als krank erklärt wird. Ich meine, die stört einen selbst, weil man all diesen Schwachsinn um einen herum als Schwachsinn erkennt, und sie stört die anderen, weil man sie auch noch auf ihren Schwachsinn hinweist. Das hören sie natürlich gar nicht gerne. Bloss gut, dass es noch nicht so weit ist. Sonst müsste ich auch noch Tabletten nehmen. Also habe ich nie etwas gesagt.»

«Und Mama und Papa?», fragte Mattea ziemlich entgeistert,

«bei denen bin ich mir nicht so sicher. Es ist nicht auszuschliessen, dass sie es auch wissen und einfach auch nichts sagen.»

«Auf alle Fälle», begann Jojo wieder, «haben wir das Buch hier, und Mattea und ich lesen darin, und eigentlich wollten wir, das Mark auch mitliest, das heisst natürlich, nur wenn er auch will.» Mark nickte bloss stumm. «Und nun bist du da Lucia, und wir wissen nicht genau, wie wir nun weiter machen sollen.» Lucia hat eindeutig an Selbstsicherheit gewonnen. Sie grinste nun und sagte: «Es kann ja nicht schaden, wenn auch jemand mitliest, der mit einem hellen Köpfchen gesegnet ist.» Als sie die empörten Blicke der anderen bemerkte, fügte sie hinzu: «Ich meine damit natürlich mein blondes Haar, was dachtet ihr denn? Jedenfalls ist es doch am einfachsten, wenn wir nun alle vier das Buch lesen.»

Jojo sah Mattea wieder fragend an. Sie meinte nur ziemlich lakonisch: «Dann ist die Sache ja klar. Hol‘ das Buch Jojo. Wir setzen uns dahinten in einen Kreis. Da kannst du gleich anfangen zu lesen. Fangen wir einfach wieder von vorne an.»

Die vier setzten sich also im Kreis auf den Boden. Jojo nahm das Buch zur Hand. Dann begann er zu reden. Er redete nicht aus sich heraus, sondern eher aus einem Impuls heraus, der ihn jetzt erfasste: «Mattea, du hast Lucia mit hierher gebracht. Mark, ich habe dich mit hierher gebracht. Ihr wisst unterschiedlich viel von dem, was wir schon erlebt haben. Aber eines ist euch vielleicht noch nicht ganz klar. Mattea und ich waren Kranke in der Stadt, als wir hierher kamen. Ihr könnt auch „Verrückte“ sagen. Wir hatten beide unterschiedliche Krankheiten, aber beide psychische Krankheiten. Wir haben beide jahrelang Medikamente gegen diese Krankheiten genommen. Schliesslich haben wir vor ein paar Jahren aufgehört die Medikamente zu nehmen. Das hat niemand erfahren. Wir haben sehr aufgepasst, uns angepasst zu verhalten. Das ist uns sehr schwer gefallen, es ist aber gelungen. Dann sind wir hierher in den Wald geraten, und hier ist uns ein Buch in die Hände gefallen. Die Umstände, unter denen das geschehen ist, waren schon merkwürdig genug, aber das Wichtigste ist euch vermutlich noch nicht klar. Wir haben in dem Buch gelesen und plötzlich gemerkt, dass wir gar nicht krank waren. Wir haben bloss Fähigkeiten, die andere Menschen nicht haben. Dieses Buch ist sehr rätselhaft, und ich glaube, es ist gut, wenn wir es nun nochmals gemeinsam lesen und uns dabei stark und unvoreingenommen auf das Gelesene konzentrieren.» Er begann vorzulesen:

Angelus Helveticus

Von Maya zu Satya – Der Weg zur Einheit

Dann blätterte er um und las weiter:

Der wesentliche Mensch

Ein wesentlicher Mensch ist wie die Ewigkeit,

Die unverändert bleibt von aller Äusserheit.

Er blätterte nochmals um und las:

Am Anfang war das Wort, und er war das Wort, und das Wort war er. Alles, was entstanden ist, ist durch das Wort entstanden, und ohne das Wort ist nichts entstanden. In ihm ist das Leben, und das Leben ist das Licht der Menschen. Und das Licht scheint für die Menschen in der Finsternis, aber die Menschen sehen es nicht. Dieses Buch soll dem Leser die Ohren öffnen, dass er das Wort wieder höre, und es soll ihm die Augen öffnen, dass er das Licht wieder sehe.

Er machte eine Pause. Alle schwiegen. Alle spürten diesen rätselhaften Worten nach, die so unverständlich waren. Nach einer Weile las Jojo den Text nochmals laut vor. Er machte wieder eine Pause. Alle schwiegen weiter. Alle spürten diesen rätselhaften Worten nach, die so unverständlich waren. Nach einer Weile las Jojo den Text ein drittes Mal vor. So sassen sie sicher eine halbe Stunde lang. Immer wieder las Jojo den Text vor. Immer wieder sassen die anderen dabei und schwiegen und spürten dem Text nach. Dann erschien jemand in ihrer Mitte. Er war nicht physisch zu sehen. Mattea spürte seine Anwesenheit eher. Jojo sah ihn mehr, als dass er ihn spürte. Mark hörte ihn, und Lucia war es wie Gedanken, die in ihrem Inneren auftauchten und doch nicht von ihr selber gedacht wurden. Es waren die Gedanken eines anderen. Ein Aussenstehender hätte nichts gesehen, als vier Jugendliche, die auf einer Lichtung im Wald im Kreis sassen und schwiegen. Für die vier geschah aber Unerhörtes. Sie erlebten es in ihrem Inneren. Sie sprachen innerlich und schwiegen äusserlich. Sie erlebten alle das gleiche, und sie erlebten alle äusserlich nichts.

Riku blickte sie an.

«Ihr seht mich hier», sprach er, «aber ihr seht nur einen Teil von mir. Ich bin entzweigerissen. Zu mir gehören ein Körper und eine Seele. Aber ich kann sie nicht mehr erreichen. Sie leben in der Stadt ohne mich.»

«Ohne dich, was soll das heissen?», fragte Lucia.

«Dort unten in der Stadt lebt ein Mensch, der Riku heisst. Sein Körper gehört zu mir. Seine Seele gehört zu mir. Aber ich bin nicht mehr bei ihm. Mein Körper und meine Seele wurden von Ahriman gekapert. Es ist Ahriman, der ihm aus den Augen schaut, es ist Ahriman, der ihm die Finger bewegt, es ist Ahriman, der sich schneuzt, es ist Ahriman, der geht.»

«Aber wie konnte das geschehen?», fragte Lucia entsetzt.

«Ach es konnte geschehen, weil ich verstehen wollte, was die Erde im Innersten zusammenhält. Es konnte geschehen, weil ich zu viel vom Wissen der Welt in mich aufgenommen hatte. Es konnte geschehen, weil mein Körper zu sehr, weil mein Körper ganz und gar von diesem Gelernten ergriffen war. Da wurde ich verfolgt. Da lief ich in Angst und Panik und verlor schliesslich das Bewusstsein. In diesem Augenblick, als ich das Bewusstsein verlor, ergriff Ahriman die Herrschaft über meinen Leib und meine Seele. Da konnte ich noch so intelligent sein, da konnte ich noch so viel gelernt haben. Da war der brillante, der glänzende, der überragende Geist der ahrimanischen Intelligenz stärker als das, was in mir war, viel, viel stärker. Er vertrieb mich aus meinem eigenen Körper und liess mich draussen zurück.»

Jojo hatte bisher schweigend zugehört. Nun sagte er: «Ich glaube ich kenne dich. Ich habe dich gesehen, als du voll Angst und Panik von der Stadt zum Wald heraufgelaufen bist. Ich habe dich gesehen, wie du am Waldrand zusammengebrochen bist. Ich dachte, du wärest tot. Aber dann warst du nicht mehr da. Dann habe ich dich zur Stadt zurückgehen sehen. Du bist ganz normal gegangen, wie fast alle Menschen gehen.»

«Du hast mich zum Wald laufen sehen. Du hast mich zusammenbrechen sehen. Aber du hast mich nicht zurück zur Stadt gehen sehen. Nicht ich bin gegangen. Ahriman ist gegangen. Ich blieb zurück - von meinem Leib und meiner Seele abgetrennt.»

Wieder meldete sich Lucia zu Wort: «Und wer ist Ahriman? Ich habe noch nie von ihm gehört.»

«Ahriman ist gross. Ahriman ist mächtig. Er ist schön und schrecklich zugleich. Er besitzt grosse, ja überragende Intelligenz. Aber er ist kein Mensch. Er wirkt auf der Erde, aber er kann nicht auf der Erde leben. Er kann keine menschliche Gestalt annehmen. Er kann überhaupt keine Gestalt annehmen, denn er kann keinen eigenen Körper haben. Aber er möchte so auf die Menschen wirken, wie Menschen auf andere Menschen wirken. Er möchte direkt zu den Menschen sprechen. Das kann er ohne einen menschlichen Körper nicht. Darum hat er mich gekapert. Er hat schon lange nach einem geeigneten Menschen und nach einer geeigneten Gelegenheit gesucht. Ich war so ein Mensch, denn ich bin mit meinem Geistigen nicht aufgestiegen zum Geist sondern tiefer gestiegen in den eigenen Körper, und vor drei Wochen kam die Gelegenheit. Damals war mein Bewusstsein in einer gewissen Weise hinuntergedämmert. Darum konnte er Besitz von mir ergreifen. Nun sitzt sein glänzender Geist in meinem Körper und überragt meine kleine menschliche Persönlichkeit bei weitem. Nun kann er auf Erden wirken, wirken, wie Menschen wirken. Durch mich kann er wirken. Das wollte Ahriman schon lange. Darnach strebte er schon lange.»

Lucia schaute die anderen ratlos an. Nun war es an Mattea zu reden: «Das heisst also, Ahriman ist kein menschliches Wesen, und er hat keinen Körper. Er will aber auf der Erde wirken, und dazu muss er irgendwie in einen Menschen hineinschlüpfen. Er kann aber nicht in irgendeinen Menschen hineinschlüpfen. Es muss der richtige Mensch sein, und zwar muss es ein hochbegabter Mensch sein, der wahnsinnig viel gelernt hat, aber mit seinem Denken irgendwie zu sehr im Körper drin steckt. Und wenn dieser Mensch dann irgendwie nicht ganz bei sich ist, wenn er extreme Panik hat oder bewusstlos wird oder so, dann kann Ahriman in seinen Körper und seine Seele schlüpfen. Und der wahre Mensch kommt dann nicht zurück in seinen Körper und seine Seele?»

«Ja», sagte Riku, «so kann man es sagen.»

Lucia schaute immer noch ratlos. Und sie fragte weiter: «Also ist Ahriman kein menschliches Wesen, und er kann nicht selber auf der Erde in Erscheinung treten. Aber was will er denn überhaupt auf der Erde? Wieso ist ihm die Erde nicht egal?»

Riku lächelte grimmig, als er antwortete: «Vor kurzem noch hätte ich dir die Frage nicht beantworten können. Solange ich noch in meinem Körper und in meiner Seele steckte, hätte ich die Frage nicht beantworten können, denn auch ich wusste nicht, wer er ist, und was er will. Nun kann ich es wenigstens ansatzweise, denn nun habe ich ihn kennen gelernt. Ahriman ist der Herr über die Materie. Die Materie ist sein angestammtes Reich, sein Herrschaftsgebiet. Das Gravitationsgesetz ist sein Gesetz. Die Coulombschen Gesetze sind seine Gesetze. Der dritte Hauptsatz der Thermodynamik ist sein Hauptsatz. Ohne Materie gäbe es die Erde nicht. Ohne Materie gäbe es die Menschen nicht. Ahriman hat die Materie nicht gemacht. Aber er herrscht über die Materie. Nun genügt ihm das nicht mehr. Nun will er die Herrschaft über die Menschen und die Erde.»

Lucia fragte weiter: «Aber ist denn der Mensch mehr als Materie? Ich meine, der Mensch besteht doch aus Materie.»

Riku seufzte tief und redete weiter: «Seht ihr, so weit hat Ahriman es schon gebracht. Die Materie lebt nicht. Das seht ihr an den Steinen. Das Leben ist in die Materie eingezogen. Das seht ihr an den Pflanzen. Das Leben fühlt nicht. Das Fühlen ist in das Leben eingezogen. Das seht ihr an den Tieren. Das Fühlen denkt nicht. Das Denken ist in das Fühlen eingezogen. Das seht ihr an den Menschen. Die Menschen haben eine Aufgabe. Sie sollen sich in Freiheit zum Göttlichen erheben. Sie sollen das Leben im Denken erfahren. Und genau das will Ahriman verhindern. Er ist schon weit gekommen. Er will, dass der Mensch nichts mehr vom lebendigen Denken weiss. Er will, dass der Mensch nur den toten Intellekt kennt. Und das hat er schon erreicht. Der Mensch erlebt das lebendige Denken nicht mehr. Er erlebt den Intellekt. Der Intellekt macht uns innerlich kalt, macht uns innerlich tot. Der Intellekt lähmt uns. Wir leben eigentlich nicht, wenn wir den Intellekt entwickeln. Lebt ihr denn, wenn ihr euer Leben ausgiesst in tote Verstandesbilder? Könnt ihr in den toten Verstandesbildern noch schaffendes Leben empfinden?»

Mit einem Mal war Riku aus ihrer Mitte verschwunden. Die vier sassen noch im Kreis, aber die Mitte war leer. Da war niemand mehr. Sie schwiegen immer noch. Dann unterbrach Jojo das Schweigen: «Wir haben gerade alle mit Riku gesprochen?» Alle nickten. «Riku hat uns von Ahriman erzählt?» Wieder nickten alle. «Ahriman hat die Seele und den Körper von Riku gekapert?» Alle nickten zum dritten Mal. «Riku kann nicht in seinen Körper zurück, aber er hat uns von Göttern und vom lebendigen Denken und der Aufgabe der Menschen erzählt?» Alle nickten zum vierten Mal. «Und was tun wir nun?»

Es war Mark, der als erstes antwortete: «Na, das ist ja wohl klar. Wir müssen dem Riku, der gerade mit uns gesprochen hat, helfen, wieder in seinen Leib und seine Seele zu gelangen.» Eine Weile lang herrschte wieder Schweigen.

Dann sprach Lucia: «Kann es nicht sein, dass das, was wir gerade erlebt haben, einfach eine innere Wirklichkeit war? Ich meine, es gibt die äussere Wirklichkeit, die kann man messen und so. Aber die innere Wirklichkeit existiert nur im Innern der Menschen. Sie ist sehr bedeutungsvoll für das Glück der Menschen, aber für die Welt hat sie keine Bedeutung. Ich meine dem Stein ist es doch egal, was die Menschen über ihn denken. Und das hier, vielleicht war das nur eine zufällig gemeinsam erlebte innere Wirklichkeit, einfach eine Koinzidenz?»

Jojo schüttelte nachdenklich den Kopf. Dann sagte er: «Das kann schon sein – theoretisch. Aber vergiss nicht, dass ich Riku gesehen habe - ohne Realitätskappe. Er lief auf den Wald zu. Dann ist er wie naja, wie gestorben und der Riku, den ich danach gesehen habe, war ein anderer, er ist zumindest anders gelaufen und hat das Gegenteil von dem getan, was er vorher getan hat. Zuerst ist der eine Riku von der Stadt fort geflüchtet. Kurze Zeit später ist der andere Riku ganz entspannt wieder zur Stadt gegangen. Die Grenze zwischen Stadt und Wald ist doch nicht so unüberwindbar. Sie scheint eher löchrig zu sein.»

Endlich redete auch Mattea: «Ich denke, das Buch ist der Schlüssel zu allem. Natürlich kann man annehmen, dass Riku ist vor irgendjemandem geflüchtet ist. Allerdings hat er das Buch in der Hand gehalten. Vielleicht ist er gar nicht geflüchtet, sondern wollte nur das Buch vor irgendwelchen Verfolgern in Sicherheit bringen. Jojo, hat er nicht so etwas gesagt?»

«Ja, das stimmt», antwortete Jojo, «er hat immer wieder geflüstert ‘sie dürfen es nicht bekommen’.»

«Also», fuhr Mattea fort, «ist das Buch tatsächlich der Schlüssel zu allem. Es ist unsere Verbindung zu Riku, und ich hoffe, es ist auch unsere Verbindung zu der Welt, in der Riku jetzt ist.»

«Genau», rief Jojo, «genau, das ist es. Der Schlüssel liegt im Buch. Es ist ein zweifacher Schlüssel. Auf der einen Seite, hilft uns der Inhalt des Buches hoffentlich, etwas über diese Welt herauszufinden, in der Riku jetzt ist, also ich meine, den Riku, der gerade mit uns geredet hat. Auf der anderen Seite hilft uns das physische Buch vielleicht, den Weg zum physischen Riku zu finden, ich meine seinen Körper und naja, seine Seele.»

«Einverstanden», sagte da Mark, «aber ich muss gestehen, dass ich mich im Moment nicht so sehr auf Rikus Rettung konzentrieren kann, weil ich fürchterlichen Hunger habe. Wir haben nämlich vergessen, Essen mitzunehmen.»

«Vergessen ist gut», rief Lucia, «ich habe es nicht vergessen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich plötzlich im Wald landen und hier so lange bleiben würde.»

«Ich habe auch Hunger», fiel Mattea ein, «ich vertraue aber auch auf Jojo, dass er uns bald ein wunderbares Mahl auftischen wird.» Jojo stand auf. Er reckte sich und erklärte: «Auftischen werde ich euch gar nichts. Ihr sitzt ja schon auf dem Tisch. Ich werde euch aber die Speisekammer zeigen. Kommt, ich zeige euch die Stelle, an der ich schon mit Mattea Walderdbeeren gefunden habe.»

Kapitel 19

Das Orakel des Rosengartens

Sie gingen die Mauer entlang, von der Mattea ihnen im Wald erzählt hatte. Die Morgensonne stand noch tief, doch der gelbe Sandstein leuchtete schon in ihrem Licht. «Ich hoffe, es klappt alles», sagte Mattea etwas nervös, «Die alte Susanna von den Rokokofrauen hat alles für mich organisiert. Wir müssen nur pünktlich an der Tür klopfen. Wir werden erwartet.»

Bald hatten sie die Tür erreicht. Mark klopfte. Schon wurde die Tür ein Stück geöffnet. In der Öffnung stand eine grosse, schlanke Frau mit schlohweissen Haaren in einer weissen Kutte. Schweigend sah sie jedem von ihnen ins Gesicht. Aus leuchtend blauen Augen sah sie jeden einzelnen an. Dann öffnete sie die Tür weit, so dass sie eintreten konnten. Sie verschloss die Tür hinter ihnen wieder, drehte sie sich zu ihnen um und begann endlich zu sprechen.

«Willkommen in Saint-Lieu de la Lance. Willkommen in unserem Kloster. Ich bin Themis, die Hüterin der Rosen. Ich kenne eure Namen: Mattea, Lucia, Mark und Jojo. Doch ich weiss nicht, welche Seele zu welchem Namen gehört.»

Mattea trat vor. «Ich bin Mattea», sagte sie.

«Freude sei mit dir, Mattea», sagte Themis und reichte ihr die Hand. Mattea wusste nicht recht, was sie tun oder sagen sollte.

«Freude sei mit dir, Themis» antwortete sie also, während sie ihr die Hand drückte. Themis sah ihr lange in die Augen, bis sie endlich den Händedruck löste.

Nun trat Lucia vor. «Ich bin Lucia», sagte sie.

«Friede sei mir dir, Lucia», begrüsste sie Themis und reichte ihr ebenfalls die Hand.

«Friede sei mit dir», antwortete Lucia nach dem Beispiel ihrer Schwester. Auch ihr sah Themis lange in die Augen, bevor sie den Händedruck löste.

Mark trat vor. «Ich bin Mark», sagte er.

«Ruhe sei mit dir, Mark», begrüsste ihn Themis.

Als letzter trat Jojo vor. «Ich bin Jojo», sagte er.

«Liebe sei mit dir, Jojo», begrüsste ihn Themis und reichte ihm die Hand. Jojo nahm die Hand. Er spürte, wie weich die Haut dieser Hand war, und er spürte, wie kräftig der Händedruck war. Das hatte er bei dieser alten Dame gar nicht erwartet.

«Liebe sei mit dir, Themis», antwortete er nach dem Vorbild der anderen. Und über ihrem Händedruck begegneten sich ihre Worte, und die Worte umschlossen einander, umarmten sich und vereinigten sich. Sie stiegen hinauf bis über ihre Köpfe, weiteten sich aus, bis schliesslich alle fünf wie in einer Kuppel standen, einer Kuppel, gebildet aus den Worten der Liebe. Diese Kuppel verband sie miteinander und gleichzeitig verband sie sie auch mit dem Kloster, auf dessen Grund sie nun standen, der Luft um sie herum und der Morgensonne weit über ihnen. Sie verband sie aber nicht mit der Zeit. Die Zeit war wie verschwunden. Vergangenheit und Zukunft waren wie verschwunden. Sie existierten nicht mehr.

Dann löste Themis den Händedruck. Damit löste sich auch diese seltsame Kuppel der Liebe um sie herum. Die Zeit war wieder da.

Sie standen am Rand eines grossen Gartens. Er war hinter ihnen und nördlich von ihnen von hohen Mauern umschlossen. Nach Westen schloss ein hohes Gebäude den Garten ab und nach Osten eine Kirche. Gebäude und Aussenmauern waren aus gelbem Sandstein und leuchteten warm im Licht der Sonne. Der grosse Innenhof, der von ihnen gebildet wurde, war ein einziges Meer aus grünen Rosenblättern, auf denen Rosenblüten tanzten, rote, gelbe, blass leuchtende und hell strahlende Rosenblüten. Vor ihnen lag ein grosser Rosengarten, in dem die Rosen in vielen rechteckigen Beeten wuchsen, und der von schmalen Wegen aus gelbem Kies durchzogen war.

Themis begann zu sprechen. «Gedenkt nun kurz dem, der dies alles geschaffen hat. Früher liess er das Gras wachsen für das Vieh, dass es fressen konnte und Weizen für die Menschen, die ihn anbauten, damit sie Brot gewinnen konnten von der Erde, und Wein, der den Gaumen der Menschen kitzelte. Und er liess auch die Rosen wachsen, die den Menschen das Herz erfreuten. Doch verschwunden sind das Gras und das Vieh. Die Erde schenkt weder Brot noch Wein nur die Rosen, sie gibt es noch in diesem heimlichen Garten. Wir haben sie bewahrt, dass sie sich laben an Mondlicht in der Nacht und an Tau vor dem Tag. Wir haben sie bewahrt, dass sie geweckt werden von den ersten Sonnenstrahlen am Morgen. Hier findet ihr noch die zarten Rosenknospen, von dichten grünen Blättern umhüllt, die noch nicht wagen, den Kelch zu entfalten. Hier seht ihr noch die Knospen schwellen und sich entfalten, sich öffnen den Sonnenstrahlen. Hier ahnt ihr noch das Gold der Rosendüfte reifen in den tiefen Brunnen ihrer Kelche und spürt den Duft den Kelchen entsteigen und aufsteigen himmelwärts. Hier seht ihr schliesslich die Rosenblätter ermattet niedersinken auf ihr Bett aus grünen Blättern.

Hier martert kein Regen sie. Hier quält keine Hitze ihren Strauch. Ich pflege sie, umsorge sie. Was von den Altvorderen zu uns gekommen bewahre ich für die noch Ungeborenen. Seid mir willkommen und schaut euch um in meinem Rosengarten. Schaut den lockeren Strauch der Hundsrose mit ihren überhängenden Ästen und Zweigen und ihren vielen zarten Blüten. Und dort die wilde Heckenrose, deren Blätter grün nach frischen Äpfeln duften. Schaut wie die Weinrose überschwenglich ihren Blütenstaub verschenkt und schaut die Edelrosen, wie sie stolz alleine stehen, schaut besonders die eine, voll von gelben Blütenblättern, man nannte sie Freude, man nannte sie Friede, man gab ihr viele Namen.»

Und sie führte sie durch den Rosengarten und zeigte ihnen ihre Rosen. Sie zeigte weisse, und rosafarbene, gelbe und rote und sogar fast schwarze Rosen. Bei manch einer blieb sie stehen, schaute sie liebevoll an und schnupperte an ihr.

Schliesslich ging sie zu einem einzelnen Stuhl in der Mitte des Gartens, wandte sich nach Norden, wandte sich nach Süden und sagte: «Steh auf Nordwind, und erwache Südwind, und weht durch meinen Garten, dass der Duft meiner Rosen ströme.»

Und tatsächlich schien es ihnen, als würde sich ein Wind erheben und kreisend durch den Garten ziehen und von all den verschiedenen Rosen ein wenig Duft mitnehmen, ein wenig zitronigen Duft hier, einen Hauch von Pfirsich dort, etwas intensiv Fruchtiges, einen Schleier von Apfel und Vanille und natürlich das Weiche, Pudrige typisch Rosige, das allen Rosen eigen war. Und der Wind zog seine Kreise um Themis herum und brachte ihr die Düfte des Gartens, und sie sog sie ein und hob die Arme, und dann liess sie sich auf den Stuhl sinken, schloss die Augen und fragte:

«Was führt euch zu mir? Was führt euch in diesen Garten?»

Mattea begann zu erzählen. Sie erzählte vom Wald, wie sie sich kennen gelernt hatten, von Riku, von den Freimaurern, von Ahriman und von ihrem völlig misslungenen Versuch, Riku wieder in seinen Körper zu helfen. Sie berichtete von ihrer Ratlosigkeit und von ihrer Verzweiflung.

Themis sass auf ihrem Stuhl. Sie sass dort mit geschlossenen Augen. Sie fragte nichts, sie regte sich nicht. Sie hörte einfach zu.

Als Mattea mit ihrer Erzählung geendet hatte, schlug Themis die Augen wieder auf. Sie sagte aber nichts. Sie blieb eine Weile schweigend auf dem Stuhl sitzen und schaute sie nicht an. Sie schaute in die vielen Rosen um sie herum. Manchmal hob sie den Blick hoch zu Sonne und senkte ihn dann wieder zu den Rosen. Schliesslich begann sie zu sprechen:

«Wollt ihr wirklich Riku befreien? Wollt ihr euch wirklich dem schrecklichen Ahriman entgegenstellen? Ihr gleicht doch eher den zarten Rosenknospen, die sich noch nie der Sonne geöffnet haben. Keine Stacheln habt ihr, um Ahrimans harte Hand abzuwehren. Er wird euch greifen und zwischen den Fingern zerreiben, und nichts wird bleiben von euch als der Hauch eines Duftes, der mehr vom Blattgrün hat als von der schweren Süsse der roten Blüte.»

In Matteas Augen blitzte etwas wie Empörung auf, doch ihre Stimme war ruhig, als sie antwortete: «Wir wollen uns Ahriman nicht entgegenstellen, doch wir wollen Riku befreien. Es hängt mehr als unser Leben davon ab.»

Die anderen nickten störrisch dazu, und Themis blickte einen nach der anderen an, träumerisch und doch durchdringend, als würde sie Dinge in ihnen sehen, von denen sie selber nichts wussten. Dann seufzte sie leise und sagte:

«So müsst ihr euch auf die Reise machen, eine Reise, auf die vor euch noch kein Mensch gegangen ist, eine Reise, die einer erleben muss, während die anderen ihn begleiten, damit er von seinen Erlebnissen auch zurückkehrt.»

Sie seufzte wieder leise und fuhr dann fort: «lange Jahre habe ich gehofft, dass mich einer nach dieser Reise fragen würde. Gehofft habe ich es für die Welt, und gefürchtet habe ich es für den Reisenden, denn diese Reise ist gefährlich. Sie führt ans Ende dieser Welt, und das Ende dieser Welt ist der Tod. Wieder und wieder muss der eine über das Ende dieser Welt hinausgehen, und wieder und wieder müssen die anderen ihn zurückholen, bis ihr zum Land Schamballa gelangt. Dort liegt der silberne Schlüssel der Kraft. Nur mit diesem Schlüssel könnt ihr euch Ahriman entgegenstellen.»

Sie blickte wieder alle der Reihe nach lange und intensiv an. Zuletzt blickte sie Jojo in die Augen.

«Jojo, du bist der eine», sagte sie, «du hast dich lange auf diese Reise vorbereitet, länger als ein Leben hast du dich vorbereitet, auch wenn du es nicht mehr weisst. Nun musst du gehen. Aber ohne deine Gefährten wirst du nicht lebend zurückkehren.»

«Schamballa,» fragte Jojo, «was ist das Land Schamballa?»

«Die Alten haben noch viel gesprochen von diesem Land, das so lange schon verschwunden ist, und mit Wehmut nannten sie es Schamballa. Einen Urquell der Kraft haben sie es genannt, und die letzten, die es sahen, sahen es nur noch wie durch einen Nebel draussen im Meer. Vor Tausenden von Jahren ist es schliesslich ganz verschwunden, kein Auge hat es seither mehr gesehen, aber es heisst, dass es wieder erscheinen wird, das Land, das da ist, das aber der Mensch erst wird sehen lernen müssen. Nicht einmal die Märchen berichten von diesem Land, und doch liegen die Kräfte, die ihr braucht, in ihm. Es hat sich zurückgezogen vor dem Blick der Menschen. Schamballa gab es, Schamballa gibt es, Schamballa wird wieder da sein für die Menschheit. Die alten Wege führen nicht mehr in das Land Schamballa, und der neue Weg liegt noch vor euch. Niemand ist ihn jemals gegangen. Doch es gibt einen Führer in dieses Land. Kein Lebender hat ihn jemals gesehen, doch wer ihn sehen wird, wird auch wissen, dass er das Land Schamballa sehen wird. Denn der Führer wird ihm den Weg weisen.»

«Und woher weisst du, dass ich es bin? Woher weisst du, dass ich den Führer finden werde? Und wo werde ich ihn finden?»

«Ich weiss es, weil ich deinen Schatten aus Licht sehe. Bisher hatten alle Menschen nur einen Schatten aus Dunkelheit. Auch du hast einen Schatten aus Dunkelheit, aber um ihn herum liegt ein zweiter Schatten, ein Schatten aus Licht. Daran sehe ich es. Ich weiss, dass du den Führer finden wirst, denn ich sehe ihn sich spiegeln in deinen Augen. Wo du ihn finden wirst, weiss ich nicht, aber eines weiss ich: Dein Weg beginnt hier im Rosengarten. Wie ein Licht sollst du auf deiner Reise sein. Doch wisse, das Licht leuchtet, es tönt nicht. Im Lichte erscheinen die Dinge, doch sie sprechen nicht für das Licht. Darum hüte deine Stimme, bei allem, was du siehst. Die törichte Frage vernichtet die Antwort.» Nun wandte sie sich Mark zu und sagte:

«Alles gehört der Erde. Nur den Smaragd schickt Gott seinen Kindern, damit sie von seinem Lichte leben. Er allein bleibt heil zu Rettung für dich und die Deinen.» Nach diesen Worten liess sie die Hand unter ihre Kutte gleiten. Sie zog sie wieder heraus, und nun lag ein grüner Smaragd in ihren Händen. Sie reichte ihn Mark, der ihn mit einer leichten Verbeugung annahm.

Dann wandte sie sich zu Mattea und sprach: «Ich sage dir, er kann die Sirenen besiegen. Er wird gehen und zurückkehren und niemals durch sie umkommen, wenn er nur dem Karfunkel vertraut.» Mattea bekam einen rot funkelnden Rubin überreicht.

Schliesslich wandte sie sich zu Lucia mit den Worten: «Sage dem Suchenden, das schöngefügte Haus ist gefallen. Er besitzt keine Zuflucht mehr, der heilige Lorbeer verwelkt, seine Quellen schweigen für immer, verstummt ist das Murmeln des Wassers, und das Licht ist dem Dunkel gewichen. Im blassen Blau des Saphirs allein liegt die Zukunft verborgen.» Mit diesen Worten zog sie einen blauen Saphir aus dem Innern ihrer Kutte und überreichte ihn Lucia.

«Nun geht», sprach sie, «mehr werde ich euch nicht sagen können, denn mehr gibt es nicht zu sagen. Ihr sollt aber wissen, dass drei Tore aus diesem Garten hinausführen. Sie heissen das Tor des Smaragds, das Tor des Rubins und das Tor des Saphirs. Sie führen nur aus dem Garten hinaus. Hinein werdet ihr nie durch sie gelangen. In den Garten gelangt ihr nur durch die kleine Tür, durch die ihr gekommen seid. Wann immer ihr dort anklopfen werdet, ich werde da sein und euch öffnen. Aber sprechen werde ich nicht.»

Nach diesen Worten drehte sie sich um und ging durch den Rosengarten davon. Sie schritt auf die Kirche zu, öffnete eine Tür und war schliesslich in der Kirche verschwunden.

Die vier blieben allein im Rosengarten zurück.

«Was tun wir nun?» fragte Jojo etwas verwirrt, «sie hat uns so viel gesagt, so viele rätselhafte Worte hat sie gesprochen. Sie hat euch Edelsteine gegeben fast wie eine Art Wegzehrung, aber was wir als nächstes tun sollen, hat sie uns nicht gesagt.»

Lucia lachte, und es war ein nervöses Lachen. «Gesagt, was wir als nächstes tun sollen, hat sie nicht, aber es folgt ja aus allem, was sie sonst gesagt hat. Wenn wir aus dem Garten hinaus wollen, müssen wir durch eines der drei Edelsteintore gehen. Fragt sich bloss noch durch welches.»

Die anderen schwiegen, und schliesslich antwortete Mark: «Ich habe als Erster etwas bekommen. Das war der Smaragd. Also denke ich, wir sollten durch das Tor des Smaragds zuerst gehen.»

«Das denke ich auch», stimmte Mattea zu, «schaut auf die Mauer da drüben. Sie liegt gegenüber der Mauer, durch deren kleine Pforte wir hierher gelangt sind. In der Mauer da drüben sind Tore.»

Sie gingen auf die Mauer zu. Darin waren genau drei Tore eingelassen, die alle ähnlich aussahen. Sie hatten steinerne Spitzbögen und immer zwei Torflügel, die sich in der Mitte trafen. Die Bögen waren mit vielen kleinen Steinfiguren verziert. Da gab es Hunde, Kröten, Drachen, Löwen, Adler, Schlangen und fantastische Wesen mit fürchterlichen Fratzen.

Lucia schaute sie alle genau an. Schliesslich sage sie: «Also das einzige, was ich in diesem Durcheinander finden kann, ist, dass im linken Tor, ein Löwe an der Spitze sitzt. Im mittleren Tor ein Adler und im rechten Tor eine Kuh oder so etwas.»

«Naja, alles Steine, aber keine Edelsteine», sagte Jojo enttäuscht.

«Es gibt auch keine Türklinken», sagte Mattea, «selbst, wenn wir das richtige Tor finden, wie sollen wir es dann öffnen?»

«Also ich sehe neben jedem Tor eine Kette herunterhängen. Ich nehme an, daran muss man ziehen, dann klingelt irgendwo eine Glocke, und jemand kommt, um zu öffnen», sagte Mark.

Er ging und schaute sich die Ketten genauer an. Dann lachte er und sagte: «Die Lösung ist zu einfach. Im linken Tor ist ein grüner Stein in den Klingelgriff eingelassen, im mittleren ein roter und im rechten ein blauer. Wenn das echte Edelsteine sind, sind das die seltsamsten Fassungen, die ich je gesehen habe. Edelsteine hängen doch normalerweise an kostbaren Ketten oder gehören zu goldenen Ringen oder Kronen, Diademen oder so. Na egal, lasst uns einfach am linken Tor klingeln.»

Sie folgten seinem Vorschlag, gingen zum linken Tor, und Mark zog an der Kette. Es war nichts zu hören. Lautlos schwangen die beiden Torflügel auf, und die vier gingen hindurch. Hinter ihnen schlossen sich die Tore wieder. Sie standen im Ödland.

Lucia lachte zum zweiten Mal nervös. «Also ich hatte irgendetwas anderes hinter diesem geheimnisvollen Tor erwartet, einen verwunschenen Wald, einen weiteren Garten oder so. Und nun ist es einfach Ödland wie überall um die Stadt herum. Das müssen wir jetzt überqueren – am helllichten Tag. Das haben wir noch nie gemacht.»

Sie gingen in direktem Weg auf den Wald zu. Sie wussten nicht, ob das Ödland überwacht wurde. Eigentlich konnten sie es sich nicht vorstellen. Schliesslich lebte die ganze Welt in der Wirklichkeit der Realitätskappen. Es war trotzdem ein unangenehmes Gefühl, und sie schauten, dass sie das Ödland so schnell wie möglich hinter sich liessen.

Im Schutz der Bäume hielten sie an. «Und nun?» fragte Jojo, «jetzt habe ich offensichtlich meine Reise ans Ende der Welt angetreten. Nur dumm, dass die Erde eine Kugel ist. Wenn wir nun lange genug geradeausgehen, kommen wir wieder hierher zurück. Da können wir gerade so gut hierbleiben.»

Er lachte, doch in diesem Lachen klang noch etwas anderes mit. Es war die Angst. Langsam kroch sie aus dem Lachen heraus, glitt zu Boden und breitete sich um sie aus. Sie kroch über den Boden wie eine Pfütze, die grösser und grösser wird, und kreiste sie alle ein. Dann kroch sie langsam über ihre Füsse, die Schienbeine und Waden hoch – immer höher. Feucht und kalt war sie und still. Sie taten alle, als würden sie es nicht merken.

«Also früher glaubten die Menschen, dass die Welt am Ende mit Brettern vernagelt ist», sagte Mattea, «das steht so jedenfalls in den Märchen. Da muss man doch glauben, dass die Menschen einfach irgendwo einen Bretterzaun gebaut und gesagt haben ‘hier ist die Welt zu Ende’, und dabei haben sie dieses Ende selber dahin gesetzt.»

Die anderen schwiegen. Keiner wagte auszusprechen, was Themis noch gesagt hatte. «Das Ende der Welt ist der Tod», und Jojo musste über das Ende der Welt hinausgehen.

Schliesslich sagte Mark: «Keine Angst Jojo, ich habe den Smaragd sicher in der Tasche.»

Die anderen lachten laut, und es war ein Lachen wie das Pfeifen eines kleinen, verängstigten Jungen im dunklen Wald.

«Wird der Wald da oben den Hang hinauf nicht lichter?» fragte Jojo, «lasst uns dahin gehen. Es muss hier doch irgendetwas Spezielles sein. Sonst hätten wir doch nicht hierher kommen müssen.»

Er hob einen langen Ast vom Boden auf. «Da ist auch schon mein Wanderstock.»

Sie gingen also auf die helle Stelle zu. Tatsächlich war dort eine Lichtung. Dann merkten sie, dass es mehr als eine Lichtung war. Es waren die Reste eines grossen Parkes. Das gewaltige Rechteck einer grünen Wiese zog sich den Hang hinauf. Dieses Rechteck wurde von uralten Eichen begrenzt. Es waren riesige Eichen, wie sie sonst allein im Land stehen, dort wo nichts sie hindert, sich weit auszubreiten. Sie breiteten tatsächlich ihre gewaltigen Äste nach allen Seiten aus und berührten einander nicht. Weit in der Ferne sah man Wasser glitzern, und ganz oben am Hang zeichnete sich eine schwarze Silhouette ab. Dort musste ein Haus stehen, ein grosses Haus, wohl eher eine Burg oder ein Schloss.

«Na also», sagte Mark erleichtert, «so kann ich einen Sinn erkennen. Dort oben stand früher das Herrscherhaus, und die Ländereien zogen sich hinunter bis zum Kloster. Darum sind dort die drei Tore in der Mauer. Kommt, wir gehen hinauf zum Herrscherhaus.»

Jojo ging mit den anderen über die Wiese. Irgendetwas geschah ihm. Fast unmerklich ging eine Veränderung mit ihm vor. Er konnte mit Mark reden, er konnte den Stock in seiner Hand durch das feuchte Gras gleiten lassen. Er konnte den kühlen Wind über seinen Nacken streichen spüren. Und doch war er sich dessen nicht sicher. Natürlich spürte er das feuchte Gras an seinem Stock nicht. Er wusste nur, dass es so war. Nun war ihm, als wisse er auch nur, dass der kühle Wind über seinen Nacken strich, und würde es nicht wirklich spüren. Er hatte das Gefühl, immer weniger in seiner Haut zu stecken. Langsam glitt er aus seinem eigenen Körper nach oben hinaus. Bald war ihm, als wäre sein eigener Körper eine Marionette, und er wäre der Marionettenspieler, der seine Hand über sie hielt und all die Fäden führte, damit die Marionette reden und gehen und gestikulieren konnte. Er redete, und gleichzeitig hatte er das Gefühl, dass er über seinem Körper schwebte und seinen Mund zum Reden brachte. Sein Körper redete, aber in Wirklichkeit war er über seinem Körper und liess ihn reden. Er spürte den Wind seinen Nacken kühlen, doch war das mehr eine Erinnerung. Er fühlte nicht wirklich den Nacken. Er rief nur eine Erinnerung an früher auf, er erinnerte sich, wie es war, wenn der Wind über seinen Nacken strich. Er ging, und doch fühlte es sich an, als ginge er nicht wirklich, sondern würde seinen Körper von oben führen. Es war keine wirkliche Erfahrung. Es war das Wissen, dass jetzt der Fuss die Erde berührte, dass er sich hob und nun kurze Zeit in der Luft schwebte, dass er wieder die Erde berührte.

Dann entglitten ihm die Fäden aus den Händen. Er sah, wie der Körper unten zusammenbrach und in der Wiese lag, die Hände ins Gras gekrampft, der Mund leicht geöffnet. Er selber aber schwebte darüber und sah zu, wie die Welt sich langsam entfernte. Er selber lag in unendlicher Ruhe, in einem Frieden, der alle Sinne überstieg. Sein Körper zog weiter ohne ihn. Er bewegte sich fort von ihm. Er sank nach unten. Und nicht nur sein Körper, die ganze Welt sank nach unten. Die Wiese, Mark, Lucia, Mattea, sie alle sanken nach unten und wurden immer kleiner und kleiner. Schon bald überblickte er den Wald um die Wiese, die ganze Stadt, das Land, und dann durchstiess er das blaue Himmelsgewölbe und sah auf den Planeten Erde hinab. Auch die Erde sank weiter und wurde zu einer blauen Kugel, die unter ihm zusammenschrumpfte. Die Erde hatte ihn verlassen. Die Erde war weitergezogen, und er war stehen geblieben.

Er hatte keinen Körper mehr. Er hatte keine Augen mehr um zu sehen, er hatte keine Ohren mehr, um zu hören, das nasse Gras der Wiese an seinen Beinen, er spürte es nicht mehr.

Von seinem Körper war ihm nur noch sein Wille geblieben. Das war jetzt sein neuer und einziger Leib. Und dieser Leib erglühte in Wärme und strahlte in die Weltenweiten. Er wusste nicht, wo er war. Er wusste nur, dass die Welt dort unten fort war. Die Welt hatte ihn verlassen, sie zog weiter ohne ihn. Er konnte ihren Weg nicht mehr mitmachen. Darum hatte sie ihn verlassen.

Und sein Gefühl gegenüber dem Leben hatte sich verändert. In der Stadt, unter der Realitätskappe, hatte er nichts vom Leben gewusst. Er war aufgegangen in den Bildern und Tönen der Realitätskappe. Im Wald dann hatte er das Gefühl gehabt, das Leben sei ihm von aussen gegeben. Aus den wärmenden Strahlen der Sonne, aus der Kühle des klaren, fliessenden Wassers, aus den goldenen Ähren auf dem Feld hatte er die Lebenskraft kommen gespürt. Dankbar aber passiv hatte er sie aufgenommen.

Und nun, wo die Welt ihn verliess, da begann er auch schon zu spüren, wie aus seinem Inneren heraus die Kraft des Belebens zu sprudeln begann. Er belebte sich nun von innen heraus selber. Nicht die Welt belebte ihn. Er belebte die Welt.

Die Erdenkugel begann, ihre Farbe zu ändern. Sie war nicht mehr Blau wie das Firmament, dass er so oft von unten gesehen hatte, sondern begann rötlich zu erglimmen und feurig zu leuchten. Glimmend und glitzernd kam es ihm entgegen wie von einem feurigen Stern. Und was ihm entgegenkam, war erstrahlende kosmische Weisheit.

Diese strahlende Weisheit, sie betäubte ihn. Es war als sei er von Bewusstsein umströmt und umstrahlt wie von gleissendem Sonnenlicht. Und er konnte diese Helle nicht ertragen. Er hatte keine Augen mehr, und doch war ihm, als müsste er die Augen schliessen. Er wusste nicht, wo er war, und wer er war. Bewusstsein war in ihm und war ausser ihm. Nun war er ganz drinnen im Licht der Weisheit. Und die Weisheit, in der er drinnen war, überwältigte ihn. Ging es ihm nun wie dem Regentropfen, der in den Ozean fällt und vom Ozean verschluckt wird? Das wollte er nicht. Er musste dagegen ankämpfen. Er wollte nicht aufgehen in diesem Meer der Weisheit. Aber wie konnte er gegen die Weisheit kämpfen, wenn er doch selber Weisheit war. Wie konnte der Tropfen gegen den Ozean kämpfen, wenn er doch selber Wasser war. Wie konnte er gegen das Licht kämpfen, wenn er doch selber Licht war. Und doch würde ihn die Weisheit weiter überwältigen, wenn er nichts dagegen tun könnte. Er hatte die Welt verloren. Nun drohte er, sich selbst zu verlieren. Und Kampf war nicht der Weg. Wie sollte der Regentropfen gegen den Ozean kämpfen. Es gab nur einen Weg. Er musste die Weisheit in ihm mit der Weisheit ausser ihm verbinden, so wie die Worte in einem Satz miteinander verbunden und doch getrennt sind. Er musste er selbst bleiben, obwohl er aus dem gleichen Stoff war, der alles um mich herum war. Er musste zum Weber werden. Er musste um sich herum eine Hülle aus Weisheit und Licht weben und sich so von der Weisheit und dem Licht um ihn herum abgrenzen. Dann war er nicht der Tropfen, der im Ozean seine Existenz verliert. Dann war er nicht der Lichtstrahl, der im gleissenden Licht der Sonne aufgeht und untergeht. So begann er zu weben und zu weben. Und je mehr er webte und webte, desto mehr verblasste das Strahlen um ihn herum, und er konnte wieder etwas sehen. Er sah den glühenden, glimmenden Erdenstern. Und dieser Erdenstern war wie eine Leinwand, auf der Bilder auftauchten.

Er schaute die Bilder näher an. Es waren Bilder aus seinem Leben. Er sah sich als Baby in seinem grauen Babyoverall, wie er sich am Bein seiner Mutter aufrichtete. Er sah sich zusammen mit den Eltern am grauen Küchentisch in der grauen Küche sitzen. Sie feierten seinen elften Geburtstag – in der Realität natürlich, denn sie hatten alle Realitätskappen auf. Er sah sich in der Schule, das heisst allein in seinem Zimmer sitzend mit der Realitätskappe auf. Er sah sich mit Mattea im Wald ringen. Überrascht stellte er fest, dass die Bilder sich unbemerkt verändert hatten. Sie zeigten sich nicht mehr auf der Leinwand, die diese Erde war. Sie zeigten sich wie gewaltige Bühnenbilder in einem altmodischen Theater, die je nach Bedarf auf die Bühne geschoben werden konnten.

«Jojo», rief Mark entsetzt, «Jojo, was tust du?» Jojo war leise ohne ein Wort in sich zusammengesunken. Mattea und Lucia waren vorangegangen. Bei Marks Schrei drehten sie sich um und rannten zurück. Dort lag Jojo reglos auf dem Boden, den Mund ganz leicht geöffnet, die Augen geschlossen.»

«Um Himmels willen, was ist passiert? Ist er ohnmächtig geworden?» stammelte Mattea.

«Ohnmächtig, ich hoffe, er ist nur ohnmächtig», antwortete Mark. Dann kam ihm sein Judotraining wieder in den Sinn. Er musste schauen, ob Jojo noch atmete. Er musste irgendetwas nehmen, an dem sich sein Atem niederschlagen könnte. Er nahm das erstbeste, das ihm in die Hand kam. Er nahm den blanken Smaragd und hielt ihn Jojo vor den Mund.

«Ich weiss nicht. Ich weiss nicht», sagte Mark, da kondensiert nichts. Vielleicht ist der Smaragd einfach zu warm, da kann dann der Atem nicht kondensieren. Er spürte mit der Hand an der Halsschlagader nach dem Puls. Fast merkte er nicht, dass jemand seine andere Hand, die Hand, die noch den Smaragd hielt, leicht umfasst hatte und sanft, ganz sanft nach unten drückte, bis sie schliesslich mit dem Smaragd auf dem Brustkorb über dem Herzen Jojos lag.

«Ich kann ganz schwach einen Puls spüren. Er wird schwächer. Er wird langsamer. Die Pausen zwischen den Schlägen werden immer länger.»

«Wir sind am Ende der Welt», rief Mattea und liess Marks Hand los, «Jojo ist über das Ende der Welt hinausgegangen, aber wir wissen nicht, wie wir Jojo zurückholen sollen.»

«Oh doch», sagte Lucia, und ihre Stimme war fast kalt, fast schneidend, «wir wissen es. Wir haben es doch einige Male getan – mit Riku.»

Und sie begann die Worte zu sprechen, die Worte, die sonst Jojo immer gesprochen hatte, die sie aber alle auswendig kannten. Oft und oft hatten sie diese Worte gesprochen.

Am Anfang war das Wort, und er war das Wort, und das Wort war er. Alles, was entstanden ist, ist durch das Wort entstanden, und ohne das Wort ist nichts entstanden. In ihm ist das Leben, und das Leben ist das Licht der Menschen. Und das Licht scheint für die Menschen in der Finsternis, aber die Menschen sehen es nicht.

Sie machte eine Pause. Alle schwiegen. Alle spürten diesen rätselhaften Worten nach, die so unverständlich waren. Sie spürten den Worten nicht nur nach. Sie flehten die Worte an. Sie baten die Worte, zu ihnen zu kommen und hinauf zu reichen zu Jojo, der die Welt zu verlassen drohte, damit sie ihn zurückziehen konnten. Immer wieder sprach Lucia den Text laut. Immer wieder sassen die anderen dabei und schwiegen und spürten dem Text nach und flehten.

«Wir müssen stärker werden», sagte da Mattea, sie wusste nicht warum. «Wir müssen ihm die Hände auf den Körper legen, unsere warmen Hände.»

Darauf sprach Mark: «Es kommt jemand zu Hilfe. Ich weiss nicht, ob ihr es hört. Ich höre es jedenfalls. Hören ist vielleicht nicht das richtige Wort. Ich höre ein Tack-Geräusch, wie wenn ich zwei Stöcke aneinanderschlage. Ich höre etwas in mir, es ist aber nicht in mir. Es ist draussen, ich erfinde es nicht, es ist so real wie das Tack-Geräusch, wenn man zwei Stöcke aneinanderschlägt, aber es äussert sich nicht draussen in der Welt. Es ist draussen in der Welt, und es äussert sich in meinem Innern.

Ich höre das Brummen der Eichen leise dort hinten, wo sie im Schatten des Waldes stehen. Ich höre das silberne Lachen der Buchen, wie sie im Winde wehen. Ich höre das Knistern der Fichten, ihr Kichern und Flüstern. Doch dann kommt der Wind, der Meister von allen, das Brummen und Lachen erstirbt, es vergeht alles Lallen. Es ist, wie wenn der Dirigent auf die Bühne tritt, und die Musiker hören auf, ihre Instrumente zu stimmen und kleine Tonfolgen zu spielen und werden ruhig und aufmerksam. Er hebt die Arme und lässt die Eichen erwachen, sie spielen einen leisen dunklen Ton. Ich weiss nicht, ob er tatsächlich schon da ist, oder ob er sich erst ankündet. Doch, doch er ist da, er schwillt an, wird lauter und stärker, wird zum brausenden Orgelton, lässt wieder nach und bleibt dann da als leiser, tiefer Grundton, der den Weg bereitet für den Klang der Buchen. Der ist viel heller, silberhell, und doch ist er warm und wie von Freude erfüllt. Es ist die Freude über das Licht der Sonne, das sie in ihren Stämmen bewahren. Und diese Freude singt als heller, warmer Ton über dem Grundton der Eichen. Nun weckt der Meister die Fichten. Ihr Ton ist noch etwas raspelnd. Es ist, wie wenn jemand, der nicht spielen kann, mit dem Geigenbogen über die Saite eines Cellos streicht. Es ist schon Ton da, aber mehr noch ist dieses Raspeln und Reiben da. Doch jetzt erwacht der Ton. Er erhebt sich über das Reiben und Raspeln und erfüllt die Luft mit klarem Laut. Es liegt etwas Klagendes in seiner Stimme. Es ist etwas in ihr, das von einem Urschmerz erzählt, von einem Schmerz, der zu Schönheit geworden ist, zu einer Schönheit, die sich vom Vergessen der Vergangenheit zum Nochnichtwissen der Zukunft zieht. In diesen Dreiklang mischt sich nun das Rascheln der Blätter. Da rascheln die braunen, toten Blätter unten auf der Erde. Sie zischen und wispern wie die Wellen am Meer, wenn sie leise den Sandstrand hinauflaufen und sich dann wieder zurückziehen in den Ozean. Schon nehmen sie den Rhythmus des Meeres auf. Sie wispern hin und wispern her und wiegen sich zu den Tönen der Bäume. Nun antworten die grünen Blätter oben in den Wipfeln, sie rauschen erst leise, wie wenn jemand, der nicht Querflöte spielen kann in eine Querflöte bläst. Man hört das Blasen, aber man hört noch keinen Ton. Dann fassen sie Mut, sie werden klarer, sie werden zum Ton, sie werden zum tanzenden, fröhlichen Rhythmus. Nun ist alles parat, nun schaut der Meister mich an. Nun muss ich singen.»

Und Mark begann zu singen. Die Worte kamen ihm einfach. Sie kamen in sein Herz, und sie stiegen in seine Kehle und flogen hinaus über Jojos Körper am Boden hinüber zu Mattea und Lucia. Und die beiden fingen sie ein. Sie fielen in seine Worte ein in dem Augenblick, in dem sie erklangen. Sie sangen seine Melodie, in dem Moment, in dem sie sich bildete. Sie hielten ihre warmen Hände an Jojos Körper, und sie sangen mit aller Kraft des Waldes.

Jojo schauten die gewaltigen Bühnenbilder in diesem altmodischen Theater an. Eines dieser Bilder kannte er gar nicht. Es war neu, und es stand riesengross vor ihm. Er sah seinen Körper auf dem Boden liegen. Mattea, Mark und Lucia sassen um den Körper herum. Sie hatten ihre Hände auf seinen Körper gelegt, und sie sangen. Und da auf seiner Brust lag ein leuchtender, grüner Smaragd.

Jojo trat in dieses Bild hinein. Er wurde Teil dieses Bildes. Er sah sich nicht mehr im Bild. Er war im Bild, und er sah aus seinem Körper heraus. Er sah sie neben sich sitzen. Er spürte ihre Hände auf seinem Körper, und er hörte sie singen. Sie sangen dieses uralte Lied, das sie irgendwo gelernt hatten und dass er gar nicht kannte.

Erstaunt schlug Jojo die Augen auf. Die anderen hörten zu singen auf. «Singt doch weiter», sagte Jojo ein wenig schläfrig. «Singt doch weiter, es war so schön.»

«Nun müssen wir nicht mehr singen», antwortete Mark, «nun, wo du wieder bei uns bist.»

«Geht es dir gut Jojo?» fragte Mattea und ihre Stimme bebte, «geht es dir gut?»

«Oh, es geht mir sehr gut», antwortete Jojo und lächelte, «ich war nur kurz fort.»

«Kurz fort?» antwortete Mattea und hielt ihm die Hand auf die Stirn, «kurz fort? Wir dachten du wärst tot. Bist du nur ohnmächtig geworden? Hast du das Bewusstsein verloren?»

Jojo lächelte, als er antwortete: «Nein das Bewusstsein habe ich nicht verloren, ganz und gar nicht.»

Und dann erzählte er, was ihm passiert war, und die anderen hörten zu und schwiegen still.

Und dann erzählten die anderen, was ihnen passiert war, und Jojo hörte zu und schwieg still.

Schliesslich brach Mark die Stille: «Ich denke, wir sollten jetzt heimgehen. Wir haben genug getan für heute, und Mittwoch sind wir doch bei den Freimaurern. Wir müssen einfach nur im Wald gehen und immer die Stadtmauer im Blick behalten. Es sollte nicht weit sein zu der Stelle, wo Lucia und Mattea nach Hause abzweigen, und den restlichen Weg kennen wir ja.

Und so machten sie sich still auf den Heimweg.